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Schattengilde 03 - Unter dem Verrätermond

Titel: Schattengilde 03 - Unter dem Verrätermond
Autoren: Lynn Flewelling
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Tunika war geflickt und fleckig wie die eines Stallburschen. Überrascht stellte sie fest, dass er schon in wenigen Monaten neunzehn Jahre alt werden würde. Halb-Faie und ohne Bart sah er für jene, die ihn nicht kannten, jünger aus, und so würde es noch einige Jahre bleiben. Seregil, der inzwischen sechzig sein musste, hatte, so lange sie sich erinnerte, ausgesehen wie ein Zwanzigjähriger.
    »Ich schätze, er freut sich, uns zu sehen«, bemerkte ihr Vater.
    »Das sollte er auch!«
    Beka stieg ab und nahm Alec stürmisch in die Arme. Er fühlte sich genauso hager an, wie er aussah, aber unter dem schlichten Gewand verbargen sich feste Muskeln.
    »Yslanti bëk kir!«, rief er voller Freude. »Kratis nolieus i’mrai?«
    »Du sprichst inzwischen besser Aurënfaiisch als ich, Beinahe-Bruder«, erklärte sie lachend. »Nach der Begrüßung habe ich kein Wort mehr verstanden.«
    Alec trat grinsend einen Schritt zurück. »Tut mir leid, wir haben beinahe den ganzen Winter nur diese Sprache benutzt.«
    Der entmutigte Gesichtsausdruck, der in Plenimar so charakteristisch für ihn gewesen war, war verschwunden. In seinen dunkelblauen Augen erkannte sie die Spuren von etwas, das ihr Vater in seinem Brief angedeutet hatte. Sie hatte Alec einmal gefragt, ob er in Seregil verliebt wäre, und ihre Worte hatten ihn schockiert. Wie es schien, war der Knabe inzwischen klüger. Irgendwo in ihrem Hinterkopf regte sich zartes Bedauern, doch sie erstickte das Gefühl gnadenlos.
    Alec ließ sie los und schüttelte Micum die Hand, ehe er die Reiter fragenden Blickes musterte. »Was soll das alles?«
    »Ich habe eine Botschaft für Seregil«, erklärte sie.
    »Die muss ja ziemlich wichtig sein!«
    Das ist sie, dachte sie. Eine, auf die er schon gewartet hat, bevor ich geboren wurde. »Das ist nicht so einfach zu erklären. Wo ist er?«
    »Oben, auf der Jagd. Er müsste bei Sonnenuntergang zurück sein.«
    »Wir sollten ihn besser suchen. Uns bleibt nicht viel Zeit.«
    Alec warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, enthielt sich jedoch jeglicher Fragen. »Ich hole mein Pferd.«
     
    Auf dem sattellosen Rücken von Patch führte er sie hinauf in das Gebirge jenseits der Weide.
    Beka ertappte sich dabei, wie sie ihn während des Ritts studierte. »Trotz deines Faieblutes hatte ich irgendwie erwartet, dass du dich stärker verändert hast«, sagte sie schließlich. »Sehe ich in deinen Augen sehr verändert aus?«
    »Ja«, antwortete er, und in seiner Stimme hörte sie die gleiche Traurigkeit, die sie an ihrem Vater bereits in Zwei Möwen empfunden hatte.
    »Was hast du so gemacht, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?«
    Alec zuckte die Schultern. »Wir sind eine Weile herumgezogen. Ich dachte, wir gingen zum Schlachtfeld, um der Königin unsere Dienste anzubieten, aber er wollte lange Zeit nur so weit wie möglich weg von Skala. Unterwegs haben wir uns Arbeit gesucht, Singen, Kundschaften …« Er blinzelte ihr frech zu. »Ein paar Diebstähle, wenn die Dinge schlecht standen. Letzten Sommer sind wir in Schwierigkeiten geraten und hier gelandet.«
    »Werdet ihr je nach Rhíminee zurückkehren?«, fragte sie, nur um sich sogleich zu wünschen, sie hätte den Mund gehalten.
    »Ich würde schon«, sagte er, und für einen Moment erhaschte sie erneut diesen wehmütigen Ausdruck, ehe er sich abwandte. »Aber Seregil will nicht einmal darüber reden. Er träumt immer noch vom Jungen Hahn. Ich auch, aber seine Träume sind schlimmer.«
    Beka war bei dem Mord an dem alten Wirt und seiner Familie nicht dabei gewesen, aber sie hatte genug gehört, dass sich ihr der Magen herumdrehen wollte. Beka hatte Thryis seit ihrer Kindheit gekannt, einer Zeit, in der sie barfuß mit ihrer Enkelin Cilla im Garten gespielt hatte. Cillas Vater hatte sie gelehrt, aus den Frühjahrstrieben der Haselnusssträucher Flöten zu schnitzen.
    Diese Unschuldigen gehörten zu den ersten Opfern in jener Nacht, in der Lord Mardus das Orëska-Haus angegriffen hatte. Der Überfall auf den Jungen Hahn war unnötig gewesen, ein willkürlicher Schlag des rachsüchtigen Totenbeschwörers Vargûl Ashnazai. Er hatte die Familie ermordet, Alec entführt und die grausam verstümmelten Leichen zurückgelassen, damit Seregil sie fand. In seinem Kummer hatte Seregil das Haus zur ehrenvollen Einäscherung in Flammen aufgehen lassen.
    Oben auf dem Kamm zügelte Alec sein Ross und stieß zwischen den Zähnen hindurch einen schrillen Pfiff aus. Von links ertönte gleich darauf ein weiterer
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