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Schattenfeuer

Schattenfeuer

Titel: Schattenfeuer
Autoren: Kristen Callihan
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der Dunkelheit an ihren Rockfalten, ohne zu ahnen, dass sich das Schicksal wirbelnd um sie herum zusammenbraute. Ein Funken flog durch die Luft wie eine Sternschnuppe am Nachthimmel, erfasste den Kerzendocht und entzündete ihn augenblicklich.
    »Siehst du?«, rief sie freudestrahlend. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich es kann.«
    Sie hatte ein Recht darauf, stolz auf sich zu sein. Kein anderes Mädchen auf der Welt verstand das Feuer so wie sie. Wie es zum Leben erwachte, wie eine neugeborene Seele. Und wie es – genau wie eine Seele – danach strebte, weiterzuleben, mit aller Macht darum kämpfte, sein Überleben zu sichern. Schon seit sie sich erinnern konnte, war das Feuer ihr Freund. Es sprach zu ihrer eigenen Seele: erschaffe mich, lass mich frei. Feuer machte sie unbesiegbar – nun, beinahe zumindest.
    Die winzige Flamme flackerte, als das Mädchen lachte, und ein wenig zu hastig stellte es die Kerze wieder zu Boden. Sie wackelte, verharrte einen quälenden Augenblick lang mitten in der Luft und fiel dann gegen einen hoch aufragenden Ballen Baumwolle. Der verzerrende Schein von Flammen erleuchtete die runden Gesichter der Kinder, auf die sich ein Ausdruck des Entsetzens legte, als der Ballen so schnell Feuer fing wie ein Kleid, das einem Kohlenfeuer zu nahe kam.
    Mit einem fast menschlichen Brüllen verschlangen die Flammen die Baumwolle, als wäre sie nur ein kleiner Appetithappen. Den Hunger ungestillt, streckte das Feuer eine rote Zunge aus, um einen weiteren Ballen zu kosten.
    »Lauf!«, schrie der Junge, packte seine Spielgefährtin an der Hand und zerrte sie mit sich. Sie war kreidebleich geworden, wie verklärt von dem Feuer, das sie entfacht hatte. Hoch loderte es über ihnen empor, ein gewaltiges Ungeheuer aus der Hölle, das alles in seinem Weg verzehrte, bevor es sich gegen sie wandte, fauchend und wogend, glutschwarz und sengend heiß.
    »Lauf, Miranda, lauf!«
    Noch während Miranda floh und spürte, wie glühende Funken die zarte Haut ihres Nackens küssten, wusste sie, dass sie durch ihre Eitelkeit alles ruiniert hatte.

1
    London, 1. März 1879
    Miranda erinnerte sich noch an eine Zeit, in der sie keine Angst gehabt hatte. Als das Leben noch angenehm war, ein warmer Kokon, in dem sie sich aufgehoben fühlte. Als jeden Morgen, wenn sie erwachte, ein munteres Feuer im Kamin prasselte, ihr Dienstmädchen die schweren Satinvorhänge vor ihrem Fenster aufzog, um die Sonne hereinzulassen, bevor es ein silbernes Tablett auf dem Nachttisch neben dem Bett abstellte. Ach, dieses Tablett, gefüllt mit zartem Blätterteiggebäck, saftigen, exotischen Früchten aus beheizten Gewächshäusern und einer Kanne heißer Schokolade. Schon diese Düfte allein hatten es vermocht, ihr einen wohligen, glücklichen Schauer zu versetzen.
    Und jetzt? Jetzt war ihr Zimmer dunkel und kalt. Die Satinvorhänge waren verschwunden, ersetzt durch triste Behänge aus Wolle, übersät von einer Konstellation aus Löchern, die silberne Sterne aus weißem Morgenlicht hereinließen. Das Bettzeug unter ihrem Kopf war nicht frisch und flauschig, sondern alt und verklumpt und musste dringend gewaschen und gelüftet werden. Eine Knochenarbeit, um die sie sich später würde kümmern müssen.
    Leise setzte sie sich auf und schwang die Beine aus dem quietschenden Bett. Ihre Füße berührten eiskaltes Holz. Die türkischen Teppiche waren schon früh verkauft worden, da solche Dinge stets einen guten Preis erzielten. Sie tastete nach ihren ausgetretenen Pantoffeln, die zum Glück frei von Ungeziefer waren, und schlurfte dann hinüber zum Waschtisch. Am Rand des mit Wasser gefüllten Kruges hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet, also beeilte sie sich mit ihrer Morgenwäsche.
    Ja, Miranda konnte sich noch gut daran erinnern, wie sich Komfort anfühlte. Wenn es daran fehlte, erkannte sie jetzt, nahmen ständige Angst und Sorge seinen Platz ein, als dumpfer Schmerz in der Magengrube, der nie ganz weichen wollte. Abwesend rieb sie über diese Stelle ihres Körpers, während sie in den Spiegel starrte. Doch sie sah nicht ihr Gesicht darin. Sie sah nichts. Ihre Gedanken kehrten zu ihren Träumen zurück, und der Schmerz in der Magengrube wurde stärker. Sie hatte wieder von ihm geträumt, dem Mann, der sie vor einigen Monaten in einer dunklen Gasse gerettet hatte. Dem Mann, der sich im Schatten gehalten, niemals sein Gesicht gezeigt hatte, und dennoch stets in ihren Gedanken war.
    Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu der
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