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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge
Autoren: Nina Blazon
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dann wäre sie schneller gelaufen. Wir hätten Maurice um eine Straße verpasst. Und ich säße jetzt nicht in der Klemme.
    Über seine Schulter sah ich Zoë ganz am Ende der Straße in einem Hauseingang verschwinden. Es war ein frisch verputztes Hochhaus gegenüber der Bushaltestelle, das zwischen den älteren Backsteinbauten aussah wie der letzte gesunde Zahn in einer Gebissruine. Überlaut nahm ich das Klappern eines Schlüsselbunds wahr, dann schlug die Tür zu. Zoë war zu Hause. In Sicherheit. Schön für sie.
    Schlecht für mich. Denn jetzt sah ich, was Irves mir alles nicht über Maurice erzählt hatte. Verdammt! Mein Adrenalinspiegel schnellte so abrupt hoch, dass meine Muskeln glühten. Wie in Zeitlupe nahm ich wahr, dass ich davonschnellte. Beim letzten Blick über die Schulter sah ich die Baustelle. Neben Zoës Haus wachten ein paar schlafende Kräne wie eine Herde von Metallgiraffen über tiefe Baugruben. Hübsche Szene. Tja, und so ziemlich das Letzte, was ich sah.
     

Schwarz und Weiß
    Es hatte Zeiten gegeben, in denen Zoë auch tagsüber die schwarzen Gardinen nicht öffnete. Und Nächte, in denen nur das Flimmern und das Gemurmel der Fernsehbilder die Träume überdecken und sie in einer Art Wachschlaf halten konnte. Betäubung war alles, und ohne den Fernseher hätte sie früher oder später den Halt verloren und wäre in ihre eigenen Träume gestürzt, wo immer dieselben Bilder auf sie warteten.
    Immerhin – jetzt, nach drei Wochen (zwanzig Tage und sieben Stunden, um genau zu sein), spürte sie wieder Boden unter den Füßen. Zumindest brachte sie es inzwischen fertig, David auf dem Pausenhof zu sehen, ohne sofort dieses endlose, schreckliche Fallen im Bauch zu spüren. Sie hatte es im Griff. Und wenn die Wut zu schlimm wurde, gab es immer noch das Tanzen. Wenn die Musik so laut war, dass sie im Zwerchfell vibrierte, gleißte hinter Zoës Lidern nur noch ein gnädiges, kühles Weiß, das alle Bilder löschte. Lediglich die Unruhe, die ihr seit Tagen zu schaffen machte, ließ sich nicht vertreiben. Eine Rastlosigkeit, die es ihr auch heute Morgen unmöglich gemacht hatte, sich auf die Mathearbeit zu konzentrieren. Eine innere Unruhe, die sie jetzt dazu brachte, mit den Fingern auf dem Oberschenkel herumzutrommeln, als hätte sie einen Koffeinrausch. Unter Strom, dachte Zoë. Wie ein Sprinter vor dem Lauf. Vermutlich war es wirklich höchste Zeit, wieder ins Training einzusteigen.
    Im Moment konnte sie sich allerdings nicht vorstellen, heute noch zu laufen. Die Nacht saß ihr noch in den Knochen. Sie war erst gegen drei Uhr nach Hause gekommen – mit klopfendem Herzen und der Angst, dass der Schlüssel sich diesmal zu laut im Schloss drehen könnte. Das Bild des Weißhaarigen blitzte vor ihrem inneren Auge auf: Irves. Bestimmt war das nicht sein richtiger Name. Sie versuchte sich an sein Lächeln zu erinnern, aber alles, was ihr im Gedächtnis geblieben war, waren das weiße Haar und die mandelförmigen, schmalen Augen, beunruhigend und faszinierend zugleich, die Iris eine farblose Milchglasscheibe. Ein Blick, der nur auf sie gerichtet war. Die Erinnerung daran jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie tastete nach dem Schülerausweis in ihrer Hosentasche und zog ihn hervor. Eine Weile drehte sie das Mäppchen zwischen den Fingern, dann klappte sie es zum zwanzigsten Mal an diesem Tag auf und betrachtete die Notiz, die sie erst heute Morgen entdeckt hatte. Sonntag: Buddha Lounge, stand dort mit schwarzem Edding an den Rand gekritzelt. Und daneben eine Handynummer. Eine Sieben am Ende, bei der der Stift abgerutscht war. Diese hastig hingeworfene Schrift weckte wieder eine ungerufene Erinnerung: an zahllose Zettel, Briefe, die sie in einer ihrer schlimmsten Nächte in einer Schale verbrannt hatte.
    Rasch steckte sie das Mäppchen ein und trat zum Fenster. Mit einer heftigen Bewegung riss sie die Vorhänge ganz zur Seite und begann ihre Sportsachen zu suchen. Es dauerte eine Weile, bis sie fündig wurde. Im Zimmer hatte sich so einiges verändert. Genug für zwei tiefe Sorgenfalten auf der Stirn ihrer Mutter. Die Regale waren abgeräumt. Schwarz und Weiß war alles, was im Zimmer geblieben war. Weiße Wände ohne Bilder, schwarze Vorhänge und Bettwäsche. Diese Klarheit wurde nur von den bunten Spielzeugautos auf Bett und Teppich durchbrochen. Neben der Tür lag auch Leons Peter-Pan-Puzzle in fünfzig Einzelteilen.
    Zoë kniete sich auf den Teppich und angelte nach den
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