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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge
Autoren: Nina Blazon
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Sportschuhen. Wie vergessene Artefakte lagen sie unter dem Bett zwischen Kisten, die mit Paketband verklebt waren. Darin lagerten die Überreste ihres alten Lebens: Fotos, Spielzeug aus der Zeit der Stadtteilfreizeiten, sogar ein steinhartes Lebkuchenherz vom Volksfest auf dem Parkplatz des Einkaufscenters. Sechs Jahre alt und hart wie Stein. Rasch zerrte sie die Schuhe hervor und stopfte sie in einen Beutel.
    Im Wohnzimmer lief der Fernseher schon seit einer ganzen Weile, doch nun nahm die Lautstärke plötzlich zu. Irgendein Trickfilmmonster lieferte sich ein Brüllgefecht mit irgendeinem Superhelden. Zoë fluchte, warf den Beutel aufs Bett und lief ins Wohnzimmer. Natürlich: Ihr kleiner Bruder saß im Schneidersitz vor dem Fernseher. Nein, eigentlich klebte er direkt am Bildschirm – mit offenem Mund, die Nase fast an der flimmernden Fläche.
    »Leon!«, fuhr Zoë ihn an. »Mach den Fernseher leiser! Mama will noch schlafen.«
    Der Kleine wandte den Kopf. Braune Locken und ebenso braune Augen, die klaren Züge seines Vaters. »Die schläft doch gar nicht«, maulte er und wandte sich wieder den Figuren zu. Als Zoë auf ihn zukam, schnappte er sich die Fernbedienung und stopfte sie sich unter sein Sweatshirt. Kampfansage.
    »Weg vom Bildschirm!«, schalt ihn Zoë. »Setz dich wenigstens auf das Sofa und nimm den Kopfhörer.«
    »Nein!«, brüllte er und verschränkte trotzig die Arme. Die Fernbedienung rutschte unter seinem Shirt hervor, er fing sie hastig auf und schob sie wieder in den Kragen. Dabei musste er auf eine Taste gekommen sein. Das Programm schaltete um zu einem Reporter, der mit Donnerstimme gegen den Lärm eines Fußballspiels anschrie.
    »Gib die Fernbedienung her, los!«, befahl Zoë.
    Leon schoss hoch. »Nein!«, heulte er mit hochrotem Kopf.
    Sie streckte die Hand aus, doch Leon schlug nach ihr.
    Das reichte! Leon bekam vor Schreck riesige Augen, als sie auf ihn zusprang und ihn kurzerhand am Handgelenk fasste. »Lass mich los!«, brüllte er so laut, als würde sie ihm tatsächlich wehtun. »Aua! Aua!«
    »Du schlägst mich nicht!«, fauchte sie. In der Sekunde, in der sowohl der Reporter als auch Leon Luft holten, hörte Zoë ein leises Schnappen. Doch bevor sie dem Geräusch nachgehen konnte, wand sich Leon wie eine Schlange aus ihrem Griff und rumpelte gegen den Couchtisch. Scheppernd fiel ein Tablett mit einer leeren Kaffeetasse und mehreren Tellern auf den Boden. Überall auf dem Teppich lagen Kekse. Leon verschluckte sich vor Schreck, dann japste er nach Luft und legte richtig los. Sein Kreischen schnitt in Zoës Ohren. Ein Fußballfan mit Kriegsbemalung jubelte dröhnend im Fernsehen. Und zu allem Überfluss schrillte im selben Moment die Türklingel. Zoë musste Luft holen, um ruhig zu bleiben. Falls ihre Mutter geschlafen haben sollte – jetzt war sie garantiert wach. In dem Moment, in dem sie dem Impuls widerstand, Leon den Hals umzudrehen, erwischte sie die fallende Fernbedienung. Die Stille, die einsetzte, als sie die Off-Taste drückte, war ohrenbetäubend. Leon verstummte und starrte auf die Tasse vor seinen Füßen. Eben noch hätte Zoë ihren kleinen Bruder erwürgen können, jetzt aber tat er ihr leid, so schuldbewusst sah er aus. Alles tat ihr leid – ihre eigene Gereiztheit, der plötzliche Zorn auf ihn und ihre Grobheit. Er war nun mal erst fünf Jahre alt und oft überdreht und trotzig. Kein Grund, ohne Vorwarnung auf ihn loszugehen. Es hätte genügt, einfach den Fernseher auszumachen. Was war nur los mit ihr?
    Sie kniete sich vor ihren Bruder auf den Boden und sah in sein verheultes Gesicht. »Ist doch nicht so schlimm«, sagte sie sanft und fuhr Leon durchs Haar. »Alles gut, Löwe. Schau, die Teller sind alle noch heil. Es ist nichts kaputtgegangen.« Zumindest, was das Geschirr betrifft , setzte sie in Gedanken hinzu. Alles gut, Zoë, Scherben bringen Glück. »Aber du weißt genau, dass wir nicht laut sein dürfen, solange Mama schläft. Sie hat die ganze Nacht gearbeitet und muss sich ausruhen.«
    Leon schniefte und murmelte etwas, dann stapfte er mit hochgezogenen Schultern hinaus.
    Es klingelte noch einmal. Zoë rappelte sich hoch und ging zur Haustür.
    Paula war das einzige Mädchen, dem lilafarbene Laufshirts standen, obwohl sich die Farbe mit ihrem Kupferhaar biss. Aber Paula scherte sich nie darum, ob etwas passte oder nicht. Zoë bezweifelte, dass sie morgens überhaupt hinsah, wenn sie Kleidungsstücke aus dem Schrank zerrte. Doch Paula hätte sich
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