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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge
Autoren: Nina Blazon
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wieder mehr auf seinen menschlichen Teil besonnen und angefangen, all die verschütteten Erinnerungen an seine Bühnenkarriere ans Tageslicht zu holen. Gizmo hätte aufgehört, Hehlerware zu verticken, und würde stattdessen sein Geld ehrlich in einem Computerladen verdienen. Eve hätte die Katakomben verlassen, und auch Claire und Thomas hätten sich irgendwann wieder eine Wohnung und eine Existenz im Räderwerk der Stadt gesucht. Natürlich wären wir zusammengewachsen und Freunde geworden. Die Kurzwahltasten unserer Handys wären mit unseren Namen belegt. Wir wären Helden, so wie Rubio es als unsere Bestimmung sah. Schutzengel für die Menschen, unerkannt unter ihnen lebend, aber immer zur Stelle, um unsere Sinne zum Guten zu nutzen.
    Aber so läuft es bei uns nicht.
    Helden und Heilige sind auch nur Spiegel.
    Und wir einfach Panthera.
    Also gingen wir an jenem Abend ohne Worte auseinander. Ein zerschlagener, blutender Haufen von erschöpften Gestalten. Jeder für sich. Aus der Ferne hörte ich die Sirenen der Feuerwehr.
    Die Nachrichten sprachen von Brandstiftung, man sicherte Spuren und überließ es dann der Stadt und diversen Bürgerinitiativen, was mit dem Schlachthof geschehen sollte. Artemis Immobilien war nicht mehr auffindbar, aber es kam heraus, dass es keine reale Person namens Juna Talbot gab. Die Polizei ermittelte wegen Versicherungsbetrugs, kam aber zu keinem Ergebnis. Der Wind trug noch einige Tage den Geruch von verbranntem Holz und geschmolzenen Kunststoffrohren mit sich, dann verwehte auch diese Erinnerung an unser Familientreffen im Alten Schlachthof. Nach einer ereignislosen Woche ohne Morde und Brände rückten wieder andere Nachrichten in den Vordergrund.
    Danach begann meine eigene Geschichte.
    Es gab viele Dinge, an die ich mich gewöhnen musste – für einige andere werde ich noch eine ganze Weile brauchen. Und manche werde ich wohl niemals als selbstverständlich empfinden.
    Zuallererst musste ich mich daran gewöhnen, kein Mörder zu sein. Es ist nicht einfach, denn die Schuld, die wir einmal empfunden haben, ist wie eine Brandwunde, die auch als Narbe das ganze Leben lang schmerzen kann. Rubio wusste das besser als ich.
    Ich musste mich daran gewöhnen, ruhig weiterzugehen, wenn ein Polizeiauto an mir vorbeifuhr, statt im nächsten Hauseingang zu verschwinden – und daran, nicht jede Frau mit Sonnenbrille oder blauen Augen argwöhnisch zu mustern und ihren Schatten zu suchen. Ich musste mich daran gewöhnen, die Schatten zu sehen und dennoch die Menschen dahinter nicht zu vergessen. Daran, Ghaezels Stimme am Telefon zu hören, und an die Vorstellung, dass wir uns in wenigen Tagen endlich wiedersehen werden.
    In unserem Stamm sind die Frauen die Geschichtenerzählerinnen, aber diesmal werde ich es sein, der nach Einbruch der Dunkelheit anfängt zu sprechen. Ich werde an dem Abend in Paris beginnen, mit einer dunklen Straße und drei Männern, die mir folgen.
    Ghaezel versichert mir immer wieder, dass sie alle Papiere mitbringt und dass es mit dem neuen Pass nicht schwierig sein wird. Ich hoffe es, aber Choi ist da natürlich anderer Meinung. Immerhin findet er es gut, dass ich meinen Schulabschluss nachholen will, sobald alles geklärt ist, und ist sogar bereit, mir dafür Sonderschichten zu geben. Warum ich den Abschluss brauche, um danach ausgerechnet zeichnen zu lernen, ist ihm allerdings ein Rätsel. Er vermutet, dass es Zoës Idee ist, und predigt mir seitdem bei jeder Schicht, dass es den Charakter verderbe, auf die Ratschläge von jungen Frauen zu hören.
    Julian hat Shakespeare wieder in der Mottenkiste seines Menschenhirns versenkt und konzentriert sich mehr denn je auf das Durchwühlen von Mülleimern. Nun, seine Bestimmung, das weiß ich jetzt, muss jeder für sich selbst finden. Thomas verkauft immer noch die Obdachlosenzeitung, Claire dagegen hat das Jonglieren aufgegeben und ist irgendwo untergetaucht. Irves glaubt, sie sei weitergezogen. Aber ich sehe ab und zu neue Zeichen an den Wänden. Eve treibt sich wieder im Untergrund herum. Ich bin sicher, dass sie mich gelegentlich beobachtet, aber ich halte nicht mehr Ausschau nach ihr. Sie wird da sein, wenn sie gebraucht wird, so wie die anderen auch. Nur darauf kommt es an. Auf YouTube kursiert ein Video, das irgendein Passant mit der Handykamera aufgenommen hat, unter dem Stichwort »Suicide Trainrider«: Es zeigt die zierliche Eve, wie sie aus dem Stand auf die Anhängerkupplung des fahrenden Zuges hechtet. Und mich
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