Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge
Autoren: Nina Blazon
Vom Netzwerk:
betreten hatte. Sie erahnte abgedeckte Möbel und farbverschmierte Tische. Im Sommer hausten Künstler aus anderen Städten im Schlachthof, um ein paar Monate im »Künstlercamp« zu arbeiten, doch nun war alles verwaist. Zoë hangelte sich die letzten Meter an der Dachrinne entlang nach unten und kam vorsichtig auf dem Kies auf. Auch der zweite Eingang war von außen mit einem Vorhängeschloss gesichert. Es roch nach Verlassenheit. Am Briefkasten war Juna Talbots Visitenkarte aufgeklebt. Luftfeuchtigkeit hatte sie wellig werden lassen. Der Briefkasten quoll über.
    »Eine Briefkastenadresse«, raunte ihr Gil zu. »Wie wir schon vermutet hatten. Ich glaube, hier werden wir nichts finden. Die haben sich ihren Unterschlupf irgendwo anders gesucht.«
    Zoë machte einige Schritte über den Parkplatz und sah sich um. Der Regen hatte aufgehört, kein Lüftchen regte sich. Doch als sie sich nun mit allen Sinnen auf die Düfte der Umgebung konzentrierte (nasser Kies, alter Mörtel, abgeplatzter Lack), filterte sie ein zartes Aroma heraus, nur wenige Moleküle in der Luft. Parfüm?
    »Ich glaube, sie waren hier«, sagte sie. »Es ist nicht lange her. Warum haben sie den Briefkasten nicht geleert?«
    Gil zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme. Zoë ließ den Blick über die nächsten Häuserzeilen wandern und versuchte die Bilder zu vereinen. Heute war es Tag, damals in ihrem Gedächtnis war es Nacht gewesen. Sie erinnerte sich daran, am Autowrack vorbeigerannt zu sein. Also hatte sie den Schlachthof halb umrundet. Und auf dem Weg… die Frauengesichter. Sie schloss die Augen und ging die Bilder ab wie in einem Museum. Gesichter. Scheinwerfer, Pupillen, die sich zu Schlitzen zusammenzogen. Und etwas im Hintergrund. Eine helle Fläche. Ein Schild! Jetzt erinnerte sie sich. In ihrem Traum von David hatte sie es noch einmal gesehen. Es war wie die Konzentration auf einen einzigen Punkt, auf das wirklich Wichtige, das alles andere zur Bedeutungslosigkeit verdammte. Jagdfieber.
    Sie öffnete die Augen und sah auf der anderen Straßenseite ein längliches, von einer Hofeinfahrt durchbrochenes Gebäude. Es war verlassen und abgeschlossen. Und über der Tür hing noch das alte und verschmutzte Schild, an dem Zoë schon tausendmal nach dem Sommerkino achtlos vorbeigelaufen war: »Bücher Roth«.
    »Gil«, sagte sie leise. »Ich schaue nur mal zum alten Antiquariat. Behalte die Straße im Auge.« Sie konnte ihm ansehen, dass er zögerte, aber nach einem Blick auf das verlassene Haus nickte er unwillig.
    »Beeil dich!«, zischte er. Lautlos huschte sie über die Straße, geborgen in ihrem Katzenschatten, und spähte durch das Fenster im Erdgeschoss.
    Ein leerer Raum mit altmodischen Tapeten an den Wänden. Und dennoch – da war etwas in der Luf t …
    Sie linste in die Toreinfahrt und erinnerte sich schwach daran, dass sie mit Ellen einmal in diesem Antiquariat gewesen war, als es noch geöffnet hatte. Im Hinterhof hatte es immer einen Bücherflohmarkt gegeben.
    »Zoë!«, zischte Gil zu ihr herüber. Doch sie winkte ab. Keine Gefahr , bedeutete sie ihm. Ich bin gleich zurück!
    Dann ging sie dicht an der Mauer entlang und betrat den Hof. Er war riesig und asymmetrisch. Mehrere Häuserwände begrenzten ihn. Unkraut wucherte in den Ritzen zwischen Hauswand und Boden aus dem Kies. Eine Tür auf der anderen Seite des Hofs war nur angelehnt. Zoë lauschte und witterte noch einmal, dann beschloss sie, dass sie einen Blick wagen konnte, und schlich an der Wand entlang, bis sie das Fenster neben der Tür erreicht hatte. Als sie durch das Fenster sah, erstarrte sie. Mit einem Mal spürte sie die Kälte und fröstelte.
    Hier also!
    In dem Raum stand ein Tisch. Und darauf lagen ein Handy und ein Stapel mit Unterlagen. Selbst von hier konnte sie das blaue Logo im Briefkopf erkennen. Am liebsten hätte sie einen Triumphschrei ausgestoßen, aber sie zwang sich zur Ruhe. Behutsam setzte sie einen Fuß auf die Treppenstufe, stieß die Tür ein Stückchen weiter auf und schnupperte. Kein Zweifel. Ein Hauch von Parfüm. Jetzt erinnerte sie sich auch daran, dass sie mit Ellen auf der untersten Ladenebene gewesen war und darüber gestaunt hatte, dass der riesige Lagerkeller sich endlos weit in das Gebäude hineinzuerstrecken schien. Hyänen leben in Höhlen , dachte sie. In ihrem Rudelverband. Sie sind vorwiegend nachtaktiv. Schlafen sie jetzt?
    Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf die alten Fliesen und machte einen Schritt in das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher