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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge
Autoren: Nina Blazon
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gelassen. Und dann sah ich Zoë – sie saß im Baum! Nein, sie saß nicht – sie kämpfte um ihr Leben. Eine Schwarzhaarige überbrückte kletternd den letzten Meter zur Baumkrone und stürzte sich auf sie. Zoë wäre um ein Haar gefallen, die Wucht warf sie zurück, Krallen verfehlten ihr Gesicht nur knapp. Doch dann sah ich, dass es keine Krallen waren. An der Hand der Frau blitzte etwas auf. Metall. Eine Art Schlagring, nur dass an den Bögen über den Fingerknöcheln martialische, scharfe Metallkrallen angeschweißt waren. Zoë wand sich unter dem Griff der Frau, und als die Waffe sie am Arm streifte, folgte Blut der Berührung. Zoë schrie auf und versuchte weiterzuklettern. Doch die andere war stärker. Viel stärker!
    Ich rannte bis zur Dachrinne. »Hey!«, brüllte ich. Die Schwarzhaarige hob ruckartig den Kopf. Ihre Züge waren verzerrt, aber nicht wegen dieses Anblicks gefror mir das Blut in den Adern.
    Ghaezel? Das herzförmige, schöne Gesicht, die Form der Brauen und der geraden Nase. Sie ist es nicht, redete ich mir ein – aber mein Herz wollte mir nicht glauben. Du wirst sie töten! , gellte eine verrückte Stimme in meinem Kopf. Zoë keuchte, als die Stahlkrallen wieder herabzuckten. Geäst brach, als sie verzweifelt tretend und sich windend auswich. Ein roter Strich erblühte seitlich an ihrem Hals und wurde zu einem Netz aus feinen Blutfäden. Sie würde sterben!
    Und in diesem Augenblick rief ich, schrie ich nach meinem Schatten, mit aller Wut und aller Entschlossenheit, im vollen Bewusstsein, dass ich nun zum Mörder werden könnte. Ich sprang mit aller Kraft, ohne darüber nachzudenken. Der Boden flog weit unter mir dahin, und es war Ghaezels sanftes, hübsches Gesicht, das meinen Krallen und den Reißzähnen hilflos ausgeliefert war. Irritiert suchte ich nach Zoës Bild, aber dann wurde mir bewusst, dass eine Schwärze mich eingesogen hatte. Alles war gespenstisch still und ich sah nur wabernde Bewegungen von fleckigem Schwarz, die sich langsam wie unter Wasser verdichteten: Flecken von schwarzem Fell auf rötlich glänzendem Schwarzfell. Ein Panthergesicht, Krallen, spiegelverkehrte Bewegungen, als würde ich auf mein Ebenbild zuspringen. Mein Schatten, der schwarze Leopard. Als wir verschmolzen, war es wie Ertrinken, aber ohne Angst. Und dann merkte ich auf einmal, dass ich dennoch atmen konnte. Wie ein Strom von Wasser brachen die Erinnerungen hervor. Und ich sah plötzlich alles.
    Paris. Vorort. Ein Ozelot, das stumpfe Gesicht einer Andenkatze – und der dritte, Khaled, der Jaguar. Ich sah mich klettern – in Todesangst, noch nicht ganz Herr über meine neuen Sinne. Sah, wie Khaled mich mühelos überholte und mit der Pranke nach mir schlug. Ich wich aus und rutschte ab. Der Aufprall auf dem Geländer, schmerzende Rippen. Sein zweiter Angriff und mein Zurückzucken, als er neben mir aufkam. Ein keuchender Überraschungslaut – und er fiel. Mit einem Stück der herausgebrochenen Balkonhalterung. Ich blickte ihm hinterher, den Geruch von morschem Rost und meinem eigenen Blut in der Nase. Ich hatte ihn nicht gestoßen!
    Dann kletterte ich, kletterte von einem Balkon zum nächsten, bis ich Ghaezel durch die Scheibe der Balkontür sah. Mit Kopfhörern lag sie auf dem Sofa, ihr sanftes, aber blasses Gesicht wirkte gequält vom Tag. Sie hatte die Augen geschlossen, doch am Beben ihrer Wimpern erkannte ich, dass sie wach war. Nur meine kleine Nichte schlief tief und fest in ihrem Arm, während mein Neffe auf dem Wohnzimmerteppich spielte. Mein erster Raubtiergedanke: Beute. Doch bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht gewusst, wie tief der Kodex verwurzelt war und dass es tatsächlich der Vernunft und aller Entscheidungskraft bedurfte, ihn außer Kraft zu setzen.
    Jetzt erkannte ich, dass es einen zweiten Gedanken gegeben hatte. Er lautete: Beschützen.
    Geäst brach unter meinen Pfoten, die Welt rutschte jäh in mein Blickfeld. Dann griff ich an.
    Es war die Sekunde, in der Zoë sicher war, sterben zu müssen. Carla war das Mädchen auf der Brücke , dachte sie. Der Killer! Die gewaltigen Löwenkrallen, denen sie trotz aller Kraft nichts mehr entgegenzusetzen hatte, zuckten herab, und sie kniff unwillkürlich die Augen zu. Bitte, lass es wenigstens schnell gehen!, dachte sie verzweifelt. Dann fegte ein Schlag sie zur Seite. Die Rinde schabte über ihre Schulter, sie rutschte ab und fiel. Instinktiv drehte sie sich in der Luft, landete auf allen vieren im Kies und blinzelte zu dem
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