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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge
Autoren: Nina Blazon
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anderen.«
    Sogar mir lief bei diesem drohenden Ton ein Schauer über den Rücken. Er war schon immer ein guter Pokerspieler gewesen, aber heute hatte er sich selbst übertroffen. Wir reagierten instinktiv, seinen Worten folgend, als hätten wir uns abgesprochen. Julian stellte sich neben mich. Claire glitt heran und Eve postierte sich mit bedrohlich schmalen Augen neben Zoë. Wir waren eine Front, Schulter an Schulter, Panthera gegen Hyänen. Und keiner, das spürte ich, würde auch nur einen Millimeter weichen. Geht oder sterbt , lautete die Botschaft. Mit grausamer Genugtuung betrachtete ich die langsam wachsende Panik bei den Hyänen. Sie begann als flackernde Verwirrung auf den Menschengesichtern, während sich ihre Schatten gleichzeitig duckten und das Fell sträubten. Die Tarnung des Parfümgestanks war längst verflogen, jetzt nahmen wir sie wahr: ein scharfer Geruch nach Angstschweiß und Niederlage. Juna reagierte als Erste. Sie strich sich mit zitternder Hand das Haar aus der Stirn und machte einen Schritt zurück. Das war das Zeichen für ihre Gruppe. Ich konnte fühlen, wie der Widerstand brach, ein Damm, der nichts mehr hielt. Und plötzlich sah ich nur noch einen Haufen eingeschüchterter Hyänen und eine verwundete Löwin, die um ihr Leben liefen.
    Wir rückten gerade so dicht auf, dass sie das Gefühl hatten, in Gefahr zu sein. Sieger konnten lässig sein und sich Zeit lassen. Die Besiegten dagegen hasteten davon, eine jämmerliche Truppe, die sich eine neue Stadt suchen musste, ein neues Revier, ein Jagdgebiet, irgendwo. Raubtiere mit Visitenkärtchen und Sonnenbrillen. Perfekte Mimikry, aber nicht perfekt genug für die Seher. Ich blickte ihnen nach, den Doppelgestalten aus Mensch und Hyäne. Sie humpelten zum Auto, ohne sich noch einmal nach uns umzusehen. Das Mädchen, dessen Leben ich verschont hatte, wurde von zweien von ihnen über den Kies geschleppt. Ihr Schatten, die Löwin, humpelte und zog das gequetschte Bein nach. Kurz darauf verpuffte der Knall der zuschlagenden Autotüren trocken in der Nachtluft.
    Die Panthera standen da und warteten. Allen voran Irves. Er sah aus wie ein Held aus einem Manga: Blutige Striemen prangten auf dem makellosen Weiß seiner Haut. Wenn ich blinzelte, erkannte ich den Schneeleoparden, triumphierend, mit gesträubtem Nackenfell und Eisaugen. Ich sah Eve mit dem sandfarbenen Glanz von Gepardenfell im Haar und Claire mit den kritischen, hellsichtigen Luchsaugen. Thomas, der Nebelparder, keuchte immer noch, nur Julian, der spitzohrige Karakal, hatte ein breites Grinsen im Gesicht.
    In diesem Augenblick fühlte ich einfach nur Stolz. Rubio hatte sich getäuscht. Wir konnten beides sein: Hundefresser und Helden. Eine Raupe war nicht besser als ein Schmetterling. Und keiner von uns hatte den Tod verdient, egal zu welcher Seite sich die Waage neigte.
    Wir durchquerten die beiden Höfe und blickten dem Auto nach, das die Straße entlangraste. Der ganze Schlachthof brannte. Wenn Gizmo etwas machte, dann gründlich.
    Julian war es, der nun als Erster das grimmige Schweigen brach. Sobald der Wagen um die Kurve verschwunden war, fing er an, wie besessen zu lachen. » Doch eh ein Mensch vermag zu sagen: schaut «, schrie er dem Rudel hinterher, » schlingt gierig ihn die Finsternis hinab: So schnell verdunkelt sich des Glückes Schein! «
    Shakespeare. Ziemlich sicher.
    Er tanzte vor dem brennenden Schlachthof herum wie ein Indianer auf Speed, umwirbelt von seinem Katzenzwilling, dessen orangegoldenes Fell im Feuerschein zu glühen schien. Sein Triumphgeheul vermischte sich mit den Sirenen der Feuerwehr und dem klirrenden Bersten der erhitzten Scheiben. Zoë drückte meine Hand und wir sahen uns an. In ihren grauen Augen wirbelte der Feuerschein. Und durch ihr Lächeln schimmerte die schwarz gezeichnete Raubtiermaske der Silberlöwin.
    » Gebt mir die Tafel, dass ich’s niederschreibe! «, brüllte Julian und deutete auf uns. » Dass einer lächeln kann und stets nur lächeln und dennoch Schurke sein! «
    »Halt endlich die Klappe, Julian!«, fuhr Irves ihn genervt an. »Weg hier, bevor die Feuerwehr kommt!«
     

Der Kodex
    Wäre diese Geschichte ein Märchen, das man sich im Beduinenzelt erzählt, hätte nun alles eine ganz neue Wendung genommen. Jede Geschichte hat einen eigenen Schlüssel, und das wäre unserer: Wir hätten uns zusammengeschlossen und zu unserer ewigen Bestimmung zurückgefunden – Helden und Hüter der Stadt zu sein. Julian hätte sich
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