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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge
Autoren: Nina Blazon
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ich es verlor. Die phosphoreszierenden Zeiger zeigten auf zwanzig vor drei – ich war also noch mitten im Zeitfenster.
    Das Mädchen lief am Planetarium vorbei, wurde schneller und hielt auf eines der Neubauviertel zu. Monster und Mangafiguren waren an die Wände gesprüht. Neben dem Tor einer Tiefgarage lieferte sich Prinzessin Mononoke einen Stockkampf mit einem ziemlich fetten, fiesen Batman. Wenigstens hatte die Prinzessin eine Waffe. Zoë hatte nur mich. An ihrer Stelle würde mich das nicht gerade beruhigen.
    Ich erstarrte, als ich aus meinem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Eine Gestalt kam um die Ecke, ein kleiner, bulliger Mann, das glatte schwarze Haar mit Pomade quer über die Halbglatze geklatscht. Ich war ihm noch nie begegnet, aber ich wusste, dass dieser Mann dort Maurice war – so wie ich beim Blick auf die Uhr wusste, dass ich in der falschen Zeitzone war. Seine dünnen Beine standen in einem fast lächerlichen Kontrast zu seiner breiten Brust und dem Bauchansatz. Aber den Fehler, mich vom Äußeren täuschen zu lassen, hatte ich bisher nur einmal gemacht. Die körperliche Erscheinung sagte nichts, aber auch gar nichts darüber aus, was einem bevorstehen konnte, wenn ein Typ wie Maurice in den Schatten ging. In diesem Moment wäre ich froh gewesen, wenn Irves oder irgendeiner der anderen mir mehr über Maurice erzählt hätte. Dann hätte ich wenigstens einen Ansatzpunkt gehabt. Aber so lief das ja bei uns nicht.
    Er kam näher, mit geschmeidigen, selbstsicheren Schritten. Sein Jogginganzug war ausgeleiert und schlotterte um seine Beine. Ein Adrenalinschub jagte meinen Herzschlag hoch. Lauf! , flüsterte es in mir. Bevor er dich bemerkt. Aber dann würde er Zoë sehen. Sie hatte das Ende der Straße noch nicht erreicht, sie ging gerade an einem Kiosk vorbei und passierte die Bushaltestelle, die selbst jetzt noch beleuchtet war. Jeden Augenblick musste sie Maurice auffallen.
    Ich griff hastig in meine Jackentasche und suchte nach meinem Schlüssel, klapperte laut damit herum, während ich fieberhaft abschätzte, wie schnell ich mich in Richtung Süden davonmachen konnte. Maurice hob den Kopf nicht, beschleunigte auch nicht, und dennoch hielt er auf mich zu. Da begriff ich, dass er mich schon längst wahrgenommen hatte. Manchmal vergaß ich, um wie viel besser die anderen sahen, rochen und hörten.
    Fünf Sekunden für eine Entscheidung: Rannte ich jetzt sofort weg, würde er mich zwar gehen lassen, aber das Mädchen vielleicht doch noch entdecken. Machte ich ihm Ärger und griff ihn an, würde Zoë sich umdrehen und zwei Männer sehen, die sich an die Kehle gingen. Vermutlich würde sie ihr Handy zücken und die Polizei rufen. Spätestens dann würde sie Maurice auffallen. Er würde sie nicht in dieser Nacht erwischen. Aber in der nächsten. Oder der übernächsten.
    Pokern um Sekunden. Ich ging noch langsamer, tat so, als würde ich in meiner Jacke nach Zigaretten oder dem Handy suchen, wechselte wie beiläufig die Straßenseite. Das Blut rauschte in meinen Ohren. Nicht hinsehen .
    Maurice erschien so schnell an der Straßenecke, als hätte ich ihn herbeigezwinkert. Ich hatte keinen Schritt gehört.
    »Sieh mal an«, knurrte er. »Besuch.« Der Geruch von ungewaschener Haut stieg mir in die Nase, zusammen mit einer stechenden, bedrohlichen Note. Falscher Stadtteil , sagte sie. Falsche Zeit, falscher Ort, Junge.
    »Ganz ruhig!«, sagte ich versöhnlich und hob die Hände. »Gibt es ein Problem, Mann?«
    Ich konnte seine Augen funkeln sehen. Für einige Sekunden war er durch meine ruhige Reaktion irritiert und zweifelte wohl an seinem ersten Eindruck. Er versuchte mich einzuordnen, aber offenbar gelang es ihm nicht ganz. Er kannte mich nicht, nicht umsonst hielt ich mich an mein Viertel. In diesen vagen Momenten war ich einfach nur ein verdächtiger Typ, der seinem Blick auswich. Langsam ging ich zurück, einen Schritt zur nächsten Straßenecke, noch einen. »Ich suche nur die U-Bahn«, sagte ich im Plauderton. »Ich geh schon, ich will keinen Ärger.«
    Ich weiß nicht, was mich verraten hatte. Mein Tonfall? Eine Bewegung? Oder das Licht einer Neonreklame, das sich in meinen Augen spiegelte?
    »Da müsstest du schon verdammt schnell rennen!«, fauchte Maurice und duckte sich.
    Es war einer dieser Augenblicke, in denen man sich wünscht, den Film noch mal zurückzudrehen. Zwanzig Sekunden nur. Ich hätte Zoë Angst machen sollen, ihr den Eindruck geben, sie würde tatsächlich verfolgt,
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