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Schattenauge

Schattenauge

Titel: Schattenauge
Autoren: Nina Blazon
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litt an etwas – oder an jemandem? Diesen Ausdruck kannte ich nur zu gut – oft genug sah ich ihn im Spiegel.
    Ich zuckte zusammen, als zwei Autos gleichzeitig loshupten wie verrückt. Ein Taxi nickte bei einer Vollbremsung, doch Irves war schon über die Straße. Er sprang auf den Gehsteig und war mit einem Satz bei dem Mädchen.
    »Hier, das hast du verloren«, sagte er und hielt ihr ein Plastikmäppchen hin. Vielleicht eine Monatskarte für den Bus. Leuten im Vorbeigehen Dinge zu klauen war einer von Irves’ leichtesten Tricks. Wo hatte er ihr das Mäppchen abgenommen? Im Gewühl im Vorraum vielleicht, in der Sekunde, in der sie ein letztes Mal zur Tanzfläche zurückblickte oder in Gedanken schon auf der Straße war.
    Offensichtlich vergaß sie ihr Misstrauen für einen Moment. Ihre Augenbrauen zuckten nach oben. Sie nickte knapp und nahm das Mäppchen hastig an sich.
    Die Fußgängerampel sprang wieder auf Grün. Das wäre der Zeitpunkt gewesen, über die Straße zu gehen und Irves in die Quere zu kommen. Wenn er vorhatt e …
    Nein, nicht jetzt , beruhigte ich mich. Nicht hier. Das ist nur Show. Eine kleine Vorstellung für den Zauderer French, der um eine Fremde so viel Angst hat, als wäre sie sein Mädchen.
    Irves machte keine Anstalten zu gehen. Er sah das Mädchen in stummer Erwartung an, mit einem Blick, dem sie sich kaum entziehen konnte. In solchen Momenten erschien er sogar mir einige Jahre älter, als er in Wirklichkeit war. Ich wette, auch das Mädchen schätzte ihn auf über zwanzig, aber wahrscheinlich war auch diese zur Schau getragene erwachsene Ruhe Teil des Auftritts. Ich konnte sehen, dass allein sein Aussehen sie neugierig machte. Was sicher nicht nur an seinem Auftreten lag. Man sieht schließlich nicht jeden Tag einen Albino-Asiaten.
    »Danke«, sagte sie schließlich. »Muss mir runtergefallen sein.«
    Ich hatte erwartet, dass ihre Stimme hell und sanft klingen würde, aber sie war dunkel und voll, mit vielen Schatten. Ich war froh, dass sie Irves auf Distanz hielt.
    Irves’ Blick löste sich nicht von ihr, aber ich wusste, dass er mich ganz genau wahrnahm: French , der mit geballten Fäusten auf der anderen Straßenseite stand. Ich begriff, dass er das Theater hier nur für mich spielte. Das Stück hieß: Locken wir den weichherzigen Algerier mal wieder aus der Reserve. Mühsam verkniff ich mir einen gezischten Fluch.
    Irves holte eine Packung Zigaretten hervor und hielt sie ihr hin, doch sie lehnte mit einem Kopfschütteln ab. Das Schnappen seines Feuerzeugs, ein roter Punkt, der aufglühte. Dabei rauchte Irves überhaupt nicht. Die Zigaretten waren Schnickschnack, ein Spielzeug, mit dem er Leute lockte. Damit gewann er Zeit für ein Gespräch und gab vor, zu ihnen zu gehören: Der Abgedrehte mit dem Mantel, der Geistermann.
    »Ich bin übrigens Irves«, sagte er nun in ihr Schweigen hinein.
    Sprich nicht mit ihm!, hätte ich ihr am liebsten zugerufen. Lass ihn stehen und geh heim!
    »Zoë«, erwiderte sie nach einer Weile. »Aber das brauche ich dir ja nicht zu erzählen, das hast du sicher schon gelesen.« Sie hielt das Mäppchen hoch.
    »Zoë«, wiederholte Irves so betont, als würde er mir das Wort vor die Nase halten, damit ich es von allen Seiten betrachten konnte. Jetzt erst warf er mir einen triumphierenden Blick über die Straße zu. »Schöner Name. Französin?«
    Er lachte und ich musste tief Luft holen, um ruhig zu bleiben. Weil ich an die Brücke dachte, daran, dass Irves fähig war, Dummheiten zu machen, einfach um mich zu provozieren. Und weil das Rot der Ampel vor meinen Augen bereits zu verblassen begann. Grauschleier legten sich darüber. So fing es meistens an. Ich ballte die Hände zu Fäusten, bis meine Fingernägel in meine Handflächen drückten. Ja, auf diese Art war es auszuhalten.
    Als hätte sie meine Angst gespürt, schweifte ihr Blick zu mir. Mein erster Reflex war, mich im Schatten der Mauer zu verbergen, aber dann fiel mir ein, dass sie mich ja gar nicht kannte. Alles, was sie sehen würde, war ein schwarzhaariger junger Typ mit dunkler Lederjacke, der sich in der Nähe des Clubeingangs herumdrückte. Vielleicht würde sie mich für einen Dealer halten.
    »Bist du öfter hier?«, fragte Irves.
    Sie blickte zu ihm zurück. »Warum willst du das wissen?«
    »Habe dich hier noch nie gesehen.«
    »Natürlich nicht«, gab sie trocken zurück. »Du hast mir gerade meinen Schülerausweis zurückgegeben, schon vergessen? Und der Club ist erst ab
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