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Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Titel: Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)
Autoren: Jacek Dehnel
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welcher Verzweiflung es den Arm ergreift, man sieht nur den Daumen am hochgekrempelten Ärmel und ein fleischfarbenes Dreieck – ein Stück des Armes, mit dem es den Kopf schützt, in der Ahnung, worauf der Hieb abzielt. Jede Sehne, jeder Muskel des Körpers versucht, diesen aus der Falle zu befreien; das Opfer hat sich schon fast vollständig aus dem Bild gezogen; sein Gesicht ist unsichtbar, und das ist gut so, denn wenn ich es malen müsste, würde mir vor Rührung die Hand zittern. Natürlich ahnt es den Schnitt – den kurzen Schmerz, das klebrige Blut, das aus der Wunde spritzen wird, die weichen Knie, die tiefen schwarzen Seen, die sich in die Augen ergießen werden. Aber es spürt noch nicht diesen anderen, damit einhergehenden Schnitt, der es all der weiten Gebiete des Lebens berauben wird, die ihm selbstverständlich erscheinen; später wird das Opfer sie sehen, irgendwo im Innern, im Traum vielleicht, in Gestalt schöner möblierter Zimmer, voll von Menschen, die ihm teuer sind; und die Türen schlagen mit Wucht zu, bewegt von einer unerklärlichen Kraft, bis es völlig allein in dem langen Korridor steht, auf dem sich zu beiden Seiten die Reihen der dunklen, für immer zugeschlagenen Türen erstrecken.
    Aber vorläufig ist das Opfer in dem kurzen Augenblick erstarrt, in dem das Messer noch schwebt, bevor es zusticht; aus dem Augenwinkel sieht es, dass die dritte dunkle Gestalt, die die Hand in einer – wie ihm schien – Geste des Mitleids erhebt, nur eine schweigende Holzfigur ist; und das mitfühlende Gesicht der Krankheit ist eine Maske aus angemalter Pappe, hinter der sich Gott weiß wer verbirgt.

V
Javier spricht
    Erst als ich selbst schon erwachsen und verheiratet war, kurz nach der Geburt Marianos, begriff ich plötzlich, eigentlich an etwas ganz anderes denkend, dass das Bild unserer Heiligen Jungfrau von Saragossa im Schlafzimmer meiner Eltern einen speziellen Rahmen mit einem Vorhang hatte, den man jederzeit zuziehen konnte, eben deshalb, weil es über dem Ehebett hing, in dem mein Vater so viele Male seine ehelichen Pflichten gegenüber Mutter erfüllt hat und meine Mutter gegenüber Vater. Und dass der große Lappen, der immer am Haken in der Ecke des Ateliers hing, genau demselben Zweck diente: das Heiligenbild zu verdecken – während der Siesta, wenn Vater die Tür abschloss und »über die Malerei nachdachte«, wofür er »vollkommene Ruhe brauchte«; das Modell schickte er trotzdem nicht aus dem Zimmer. Oder die Modelle, wenn es gerade mehrere waren.
    Erst als ich selbst schon erwachsen wurde und malte, besser gesagt, oft über die Malerei nachdachte, begriff ich, dass er gar keine Modelle brauchte; jedenfalls nicht in dem Sinn wie andere Künstler, die irgendein für ein paar Maravedis gekauftes Weib in die Pose einer Nymphe oder Göttin versetzten – an die Wand gelehnt, auf Kisten liegend, mit einem alten Fetzen umwickelt, der aussehen sollte wie kostbare Seide – und exakt die Schattenlinien nachzeichneten: Sie schauen, wo das Licht sich von der Dunkelheit scheidet, wo die Grenze fließend und wo sie scharf ist; wie die Perspektive das Knie, die Hand, den gesenkten Nacken verändert und rätselhafte Formen entstehen. Den Körper kannte er auswendig: den weiblichen, den männlichen, den des Tieres. Den lebendigen und den toten. Den ohnmächtigen. Den auf einen Baumstumpf gespießten, aufgeschlitzten. Den Widerrist eines Pferdes, die unter der dicken Haut spielenden Muskeln eines Stierhalses, die knotigen Finger der Armen, das schwabbelnde Fett auf dem Bauch einer Marktfrau, die von Hexen zum Sabbat getragen wird. Er kannte das jedem Körper eigene Licht- und Schattenverhältnis, Geflechte, Verkürzungen; das ganze Theater um die Anordnung der Hände und Füße, das Drapieren, das Zur-Sonne-Drehen waren für ihn völlig überflüssig – und dennoch kamen Mädchen zum Posieren, selbst wenn er Bilder malte, auf denen keine einzige Frau zu sehen war. Er skizzierte sie rasch – ganze Stöße solcher Zeichnungen hat er in Madrid gelassen, ich klebte sie später in Alben ein: wie sie das Haar lösen, wie sie, den geschlossenen Fächer in der Hand, auf einem Hocker sitzen, wie sie sich, die Beine um einen Koffer gespannt, in einem Spiegelchen betrachten, das sie mit beiden Händen über den Kopf halten. Die Tatsache, dass er sie besaß – zuerst auf dem Papier, danach oder in der Zwischenzeit auf dem Koffer, an der Wand, an die Staffelei gelehnt, ganz verschieden –, wurde zu einem
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