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Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)

Titel: Saturn. Schwarze Bilder der Familie Goya: Roman (German Edition)
Autoren: Jacek Dehnel
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Jagd mit seinem Schulfreund Zapater … Mutter informierte er nur kurz; im Übrigen, selbst wenn sie gewusst hätte, was er manchmal über sich und die Alba sagte, selbst wenn er ihr gesagt hätte: »Ich fahre zur Herzogin und werde mich amüsieren«, hätte sie nur die Augen niedergeschlagen, denn das war das einzige, was sie konnte. Und sich unter ihn legen, wenn es Zeit für die nächste Schwangerschaft, für die nächste Fehlgeburt war.
    Als ich neun Jahre alt war, blieb er einmal sehr lange weg – nicht, dass das vorher nicht passiert wäre, aber diesmal kehrte er später zurück, als er angekündigt hatte; es kamen Briefe aus Cádiz, aber von fremder Hand geschrieben – denn schon damals erkannte ich seine schiefe, etwas humpelnde Schrift mit den langen Schnurrbärten des s und des y ; Mutter saß tagelang in ihrem Zimmer oder kam, in einem plötzlichen Anfall, zu mir gelaufen und begann mich zu herzen und zu küssen, heftig und übertrieben, so dass ich mich so schnell wie möglich von diesen gestärkten Manschetten und steifen Spitzen losreißen wollte; wenn ich in diesem Gerangel ab und zu einen Blick auf sie warf, bemerkte ich, dass ihre Augen vom Weinen ganz geschwollen waren, von einem dünnen roten Strich umrahmt, blutunterlaufen, das Weiße war ganz rosa; ihre Züge waren grob geworden vor Verzweiflung, so wie es manchmal während der Schwangerschaft vorkam; sie sah erbärmlich aus, und wenn ich sie ansah, brachte ich es nicht mehr fertig, mich ihr zu entziehen, erstarrte wie ein im Netz gefangener Spatz, wenn man ihn in die Hand nimmt, und wartete, bis sie dieses aufdringliche Bedürfnis nach Zärtlichkeit befriedigt hatte. Meistens aber gelang es mir, mich dem Anblick ihres Gesichts zu entziehen, ich zappelte und wand mich wie ein Wilder, nur um sie nicht ansehen zu müssen – dann konnte ich mich losreißen und in die Küche oder auf den Patio entkommen.
    Er kam furchtbar ausgemergelt zurück, der Kutscher und der Diener hatten ihn untergehakt und schleppten ihn ins Haus; seine Hautfarbe war bläulich, grünlich, er sah aus wie aus schmutzigem Wachs geformt, furchtbar abgemagert, um den Kopf hatte er ein weißes Tuch; aber das Seltsamste war das Schweigen, das die Situation begleitete. Keine freudigen Rufe, keine Begrüßung, keine Anordnungen; wenn Mutter etwas sagen musste, tat sie es flüsternd, als fürchtete sie, die erhabene Stille zu stören. Jedes Rascheln des Kleides, jedes Klopfen des Absatzes schien zu laut.
    Am Abend, als das Dienstmädchen mich ins Bett brachte, sagte sie zu mir: »Du Ärmster, jetzt hast du einen völlig tauben Vater.«
    Danach lag er mehrere Monate im Bett; sein Gesicht wurde wieder voller, er zeichnete wieder in sein Heft, er fing an zu nörgeln – wie das bei Männern ist, wenn sie gesund werden. Ständig rief er nach etwas oder ärgerte sich, dass er nicht malen konnte; und weil er taub war, war er furchtbar laut; sein mächtiges Organ war im ganzen Haus zu hören, vom Geschäft Don Felicianos im Parterre, wo die Glasfläschchen mit den Parfüms erzitterten und leise klirrten, bis zum Dachboden, wo seine Stimme die zum Trocknen aufgehängten Laken in Bewegung versetzte. »Javieeer«, brüllte er, »Javieeer, komm zu Papa!« Und ich floh, so gut ich konnte, wie ich vorher aus den Umarmungen meiner Mutter geflohen war.
    Ein Gebrechen bedeutet Fremdheit. Der Mensch, der einen Arm verloren hat, ist nicht einfach derselbe Mensch wie vorher, nur ohne Arm. Er ist ein Mensch, der anstelle des Arms das Fehlen des Arms hat, einen ganz neuen Körperteil, den man nicht anschauen darf, über den man nicht spricht. Denn so, wie im Körper anstatt des Arms das Fehlen des Arms gewachsen ist, so ist auch in der Seele statt etwas das Fehlen von etwas gewachsen, eine schmerzhafte, eiternde, empfindliche Stelle. Und diejenigen, die einen ihrer Sinne verlieren, verlieren unvergleichlich mehr – eine ganze Welt, die nur mittels dieses Sinnes zugänglich ist; ja, mehr noch: nicht nur die Melodie der Zarzuela , nicht nur die Art, wie La Tirana auf der Bühne die Worte aussprach, mit diesem im Ohr kitzelnden Gluckern, diesem Gurren, sondern auch das flüsternde Geräusch, das durch den Saal ging, die Rufe, die aus den hinteren Reihen hallten, den Applaus, diese gemeinsame Welle von Lauten, mit der alle vereint ihr für die Laute dankten, die sie von der Rampe herunterschickte – wie zwei gegenüberliegende Meere: Hunderte Zuschauerkehlen gegen ihre eine, unübertroffene Kehle. Und die
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