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Sanssouci

Sanssouci

Titel: Sanssouci
Autoren: Andreas Maier
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Horst, Evangeliumshorst, bezeichnete die Vögel als Wort Gottes, und wenn man ihn darüber aufklärte,er sei besoffen und fasele Zeug, Jesus sei das Wort Gottes und nichts anderes, dann schaute er ergriffen und tiefsinnig und entgegnete, nein, nein, das habe man noch nicht recht verstanden.
    Arnold und Heike waren integraler Bestandteil des Luisenplatzes. Den Menschen dort waren die beiden Zwillinge so etwas wie Adam und Eva vor dem Sündenfall. Es war ungewöhnlich, zu sehen, wie zart und hochachtungsvoll die Penner vom Brunnen mit den beiden umgingen. Sie waren wie eine Erscheinung unter ihnen. Figuren aus einem uralten Mythos, der sich durch alle Zeiten wiederholte. Am Luisenplatz herrschte Ewigkeit.
    Nur wenige hundert Meter vom Luisenplatz entfernt, in der Gregoriusstraße, erlebte Frau Anni Schmidt eine für sie unerwartete Popularität. Zuerst erschien der Regionalsender bei ihr, installierte Scheinwerfer in ihrem Garten, stellte Frau Schmidt an den Gartenzaun, an dem sie mit Hornung gesprochen hatte, setzte sie an ihren Gartentisch, setzte sie an ihren Küchentisch, ließ sie durch den Garten laufen, ließ sie ihre Blumen gießen, ließ sie über die Straße auf ihr Gartentor zukommen, und interviewte sie dabei. Frau Schmidt war geschmeichelt, ließ alles gern über sich ergehen, hatte aber über Maximilian Alexander Hornung nur wenig bis gar nichts zu sagen, abgesehen davon, daß es sich um einen netten, freundlichen, sympathischen Mann gehandelt habe, der sich immer um seinen Garten gekümmert, seine Rosen gepflegt, viele Blumen gekannt und überdies keinen Fernseher gehabt habe, obgleich er für das Fernsehen gearbeitet hatte.
    Der verfertigte Bericht war so uninteressant, daß er im Regionalsender (Kulturmagazin Potsdam) nicht gesendet wurde.
    Anschließend erschien der Landessender bei Frau Anni Schmidt, errichtete Scheinwerfer und Reflektoren in ihrem Vorgarten, dann in ihrem Hintergarten, führte sie mit der Kamera durchs Haus, ließ sie Limonade an ihrem Gartentisch trinken, sie wurde auch gefilmt, als gerade Christoph Mai und Alexej Lipskij bei ihr erschienen (»Aus«, rief der betreffende Journalist, »die beiden können wir nicht gebrauchen«), dann interviewten sie die Dame, und sie erzählte, was sie wußte, nämlich daß Hornung ein sehr netter Mann gewesen sei, über den man in Potsdam vielleicht zuerst ein bißchen seltsam gedacht habe, weil er aus dem Westen gekommen sei, sie kenne den Westen ja eigentlich auch nicht, aber er habe sich immer sehr schön um seinen Garten gekümmert, und er habe sich in wohltuender Weise nicht für die Nachrichten interessiert, er habe sogar überhaupt gar keinen Fernseher gehabt.
    Anschließend erlebte Anni Schmidt unruhige Tage, denn es erschienen nicht nur Menschen von der Lokalpresse bei ihr, sondern auch Vertreter der Stadt. Letztere wurden aufmerksam auf den Kontakt, den Frau Schmidt zu Mai und jenem russisch-orthodoxen Mönch hatte, der bereits bei der Karstadteröffnung aufgefallen war. Und wie überhaupt alles so eigenartig miteinander verwoben war … schließlich verkehrte auch die schwarze Minderjährige in der Gregoriusstraße. Mai, Hornung, der Mönch, das Mädchen, wie hatte man diese Verbindungzu verstehen? Der depressive Filmkritiker, das verstorbene Genie, der kritische Mönch und das kleine Luder aus der Zeitung …
    Sie kommen, zu richten mit scharfem Schwert, rief Evangeliumshorst. Wen er meinte, war nicht ganz klar. Den Spiegelreporter ließen sie eiskalt abfahren und verjagten ihn vom Platz.
    So saßen sie am Luisenbrunnen. Sie saßen bis in die Nacht. Und am nächsten Morgen saßen sie wieder. Sie sahen die Sonne untergehen und aufgehen und wieder untergehen und sahen die Menschen vorbeilaufen und hörten die Vögel singen. Aus ihrer Sprache folgte nichts mehr. Keine Handlung, kein Vertrag, kein Bürgerliches Gesetzbuch , nichts. Reiner Gesang. So können Menschen in Potsdam leben.
    Amen, sagte Hofmann.
Alexej versucht etwas
    Die große Demonstration gegen die Wiedererrichtung der Garnisonkirche war für den siebten August geplant. Verschiedene Kreise in der Stadt hatten sich ausführlich auf diesen Tag vorbereitet. Wie immer vor Demonstrationen herrschte eine angespannte Erwartungshaltung. Natürlich kann man nur schwer sagen, was das Erwartete war. Es handelte sich wie stets um so etwas wie eine unmittelbare, spontane, aus dem Augenblick geborene, unhintergehbare, endgültige Verbesserung der Welt. (Im nachhinein war man dann
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