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Salamitaktik

Salamitaktik

Titel: Salamitaktik
Autoren: Ralf H. Dorweiler
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auf die Beine gehoben wurde und drei weiteren Männern gegenüberstand. Auch wenn ein absoluter Riese dabei war, der aussah, als könnte er Marios Genick mit einer Hand brechen, war es doch der Älteste der drei, der das Sagen hatte, das war Mario auf den ersten Blick klar. Von ihm ging eine stille, aber viel eindrücklichere Gefahr aus. Der Mann war geradezu winzig im Vergleich zu dem Riesen und dem anderen, mit einem sehr schicken Anzug bekleideten Mann. Er trug eine einfache Stoffhose und ein Hemd, darüber einen dünnen, braungestreiften Pullover. Mit seinem ordentlich rasierten grauen Schnurrbart sah der Alte aus wie das Klischee eines türkischen Arbeiters, der das Rentenalter erreicht hatte, aber Mario konnte sehen, dass hinter der unscheinbaren Fassade weitaus mehr steckte. Jetzt bemerkte er auch die dezente Tür hinter dem Schreibtisch, durch die die Männer hereingekommen sein mussten. Am liebsten hätte er jetzt seine rutschende Hose hochgezogen, aber Mario wagte nicht, sich zu bewegen.
    Jussef sagte wieder etwas auf Türkisch, der Alte antwortete und wandte sich dann an den Riesen. Der ging zum Koffer, schaute ihn sich kurz an, legte seine Pranken an die Hartschalen und drückte. Es dauerte keine drei Sekunden, bis die Schale mit einem lauten Knacken brach. Der Riese grinste, griff durch den Riss in die Hartschale und zerrte daran, bis ein breites Stück absplitterte.
    Â»Du brauchst einen neuen Koffer, Junge«, sagte der Alte ruhig. Mario konnte als Antwort nur nicken.
    Der Riese schüttete den Inhalt des Koffers auf den Schreibtisch. Als Mario die herauspurzelnde Kleidung sah und mit dumpfen Geräuschen ein graublauer Krug aus Steingut und eine Flasche Apfelwein auf die Tischplatte aufschlugen, war ihm mit einem Schlag klar, dass er den nächsten Tag nicht mehr erleben würde.
    Es war der falsche Koffer.
    Â»Wo sind meine Sucuk?«, fragte der Alte. Er klang dabei fast nett.
    Â»Das … das muss eine Verwechslung sein«, brachte Mario stotternd hervor. »Ich meine, der Koffer. Das ist … nicht meiner.«
    Â»Wo sind meine Sucuk?«, wiederholte der Mann.
    Mario sah, wie der schick aussehende Türke sich genervt hinter den Schreibtisch setzte und mit spitzen Fingern die Klamotten durchging.
    Â»Ich weiß es nicht. Ich kann nichts dafür. Das ist … Jemand muss den gleichen Koffer gehabt haben. Genau.«
    Â»Du hast meine Sucuk nicht«, stellte der Alte jetzt fest.
    Â»Das ist offensichtlich, Onkel Umut«, sagte der in feinen Zwirn gekleidete Mann. »Die Frage ist, ob der Junge uns verarschen will.«
    Â»Nein, nein, nein, ich will niemanden verarschen. Denkt doch mal nach, dann wäre ich doch jetzt gar nicht hier. Ich meine, wie dumm wäre das denn?«
    Â»Sehr dumm«, antwortete der Alte. In seinen Worten schwangen so deutlich unterschwellige Drohungen mit, dass es Mario ganz schlecht wurde. Als der Riese auch noch zu lachen begann, drehte sich alles, und eine Sekunde später übergab sich Mario explosionsartig auf den Perserteppich. Der heftige Schwall Erbrochenes, begleitet von einem sauren, durchdringenden Geruch, sorgte für augenblickliche Stille im Raum, die allerdings nur kurz anhielt. Mario brauchte kein Türkisch zu verstehen, um mitzubekommen, dass er mit wüsten Flüchen und Beschimpfungen bombardiert wurde. Der Alte verschwand durch die Tür nach hinten. Sein schicker Neffe schaute den noch immer vorgebeugt dastehenden Mario kopfschüttelnd und naserümpfend an und folgte Umut dann ins Nebenzimmer.
    Jussefs Aufgabe war es, die Situation schnell wieder in den Griff zu bekommen. Ein paar gebellte Befehle, und die beiden jungen Türken griffen fluchend Marios Arme. Sie zerrten ihn auf die Toilette.
    Â»Du Arsch«, sagte der, der vorhin das Messer geführt hatte. »Niemand kotzt auf unsere Familie.«
    Â»Scheiße. Es tut mir leid.«
    Mario erhielt einen heftigen Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterkopf.
    Â»Mach dich sauber, weißt du?«
    Die beiden verschwanden aus der Toilette. Mario drehte den Wasserhahn auf und wusch sich das Gesicht, nahm einen großen Schluck Wasser und spuckte es wieder aus. Als er in den Spiegel sah und sein blasses Gesicht betrachtete, aus dem gerötete Augen hervorstachen, wurde ihm klar, dass dies seine wahrscheinlich einzige Chance war, diese verdammte Geschichte zu überleben: Er war allein, er musste zum Fenster raus. Er
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