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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen
Autoren: Franz Fühmann
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erfuhr, unter irgendeinem der Tische, daran Gäste, „wahrscheinlich Hafenarbeiter“, gesessen (sie hatten sich beim Eintritt des Fremden verlegen erhoben), der alte Kommandant begraben lag, und Pavlo las mit dem Reisenden die Inschrift des Grabsteins: „‚Hier ruht der alte Kommandant. Seine Anhänger, die jetzt keinen Namen tragen dürfen, haben ihm das Grab gegraben und den Stein gesetzt. Es besteht eine Prophezeiung, daß der Kommandant nach einer bestimmten Anzahl von Jahren auferstehen und aus diesem Hause seine Anhänger zur Wiedereroberung der Kolonie führen wird. Glaubet und wartet!‘“ — Und dann? — Und dann gar nichts: Der Reisende ging; die beiden blieben; der Reisende ging zum Hafen hinab, da liefen die beiden hinter ihm her; der Reisende sprang in ein „Boot, und der Schiffer löste es gerade vom Ufer. Sie hätten noch ins Boot springen können, aber der Reisende hob ein schweres geknotetes Tau vom Boden, drohte ihnen damit und hielt sie dadurch von dem Sprunge ab.“
    Aber das war doch niemals ein Ende! Wo wurde denn erklärt, wer gut und wer schlecht war, wer recht und wer unrecht hatte, wem man nacheifern sollte und wen entlarven; wo war ein Fazit, was war bewiesen, was richtiggestellt, was widerlegt? Man wußte am Schluß noch nicht einmal, wer eigentlich dieser Reisende gewesen, der da auf die Insel gekommen, und nun fuhr er einfach wieder nach Hause, das konnte doch kein Ende sein! Doch es war kein Blatt herausgerissen, die Seiten des Papierbuchs waren durchnumeriert, dieser Schluß stand auf Seite einundzwanzig, und Seite zweiundzwanzig begann eine neue Geschichte. — Pavlo war erschlagen: Es hatte so hoffnungsvoll begonnen, auch wenn es sich anfangs ganz trostlos gegeben, ja gerade der Schauder der Trostlosigkeit schuf die Hoffnung auf ein glückliches Ende, und man hatte dies Ende auch kommen sehen, es war schon in nächster Nähe gewesen, die geglückte Flucht aus der Strafkolonie hätte ein Beispiel für alle gegeben —; und nun hieß, wie zum Hohn, die nächste Erzählung ausgerechnet „Die Marter der Hoffnung“.
    Was war denn das?
    Pavlo las den Namen des Verfassers, er hieß Villiers de l’Isle-Adam, ein komischer, ein unmöglicher Name, so hießen die Leute in alten Zeiten, doch Pavlo war dank seines Geschichtsstudiums sogar fähig, diesen Namen richtig auszusprechen: Wiljährdelillada.
    Es geschah zur Zeit der Inquisition, und Pavlo war plötzlich ein alter Jude (er wußte nicht, was das war, doch er war es); er hieß Rabbi Aser Abarbanel und lag im Gefängnis zu Saragossa und erfuhr, daß er morgen verbrannt werden sollte; der Großinquisitor von Spanien persönlich, der ehrwürdige Pedro Arbuez d’Espila, war erschienen, es ihm zu verkünden: „‚Mein Sohn, freuet Euch: Ich sage Euch, Eure Prüfungen hienieden nehmen ein Ende. Wenn ich auch angesichts so vieler Hartnäckigkeit voller Schauder die Erlaubnis dazu geben mußte, daß man so streng mit Euch verfuhr, so hat meine Aufgabe, Euch brüderlich auf den rechten Weg zu bringen, doch ihre Grenzen. Ihr seid der störrische Feigenbaum, der nun, nachdem er soundso oft ohne Frucht befunden worden ist, der Strafe des Eintrocknens verfällt . . . Gott allein aber bleibt es überlassen, über Eure Seele zu befinden. Vielleicht wird Euch im höchsten Augenblick das Licht der ewigen Gnade leuchten. Wir wollen es hoffen! Es gibt Beispiele dafür . . . Amen! Schlaft diese Nacht noch in Frieden. Morgen werdet Ihr am Autodafé teilhaben, das heißt, Ihr werdet dem Quemadero überliefert, der Glut, die die ewige Flamme verkündet: Sie brennt, Ihr wißt es, mein Sohn, nur in einiger Entfernung, und der Tod braucht, bis er kommt, mindestens zwei Stunden, oft sogar drei, infolge der feuchten und eiskalten Tücher, mit denen wir Stirn und Herz der Opfer sorgsam und schützend umwickeln. Ihr werdet nur dreiundvierzig sein. Bedenkt, daß Ihr, als letzter in der Reihe, genügend Zeit habt, um Gott anzurufen und ihm diese Feuertaufe darzubieten, die vom Heiligen Geist kommt. Setzt Eure Hoffnung also auf das Ewige Licht und schlaft.‘“
    So hatte der ehrwürdige Vater Großinquisitor gesprochen, und dann war er aus der Zelle gegangen, nachdem er, ebenso wie sein Begleiter, der ehrwürdige Bruder Foltermeister, den Gefangenen demütig um Verzeihung für alles Leid gebeten, das sie ihm hatten antun müssen, und als nun Pavlo in seiner Zelle, in der Finsternis der Nacht und der Gewißheit seines morgigen Flammentodes, in den
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