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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen
Autoren: Franz Fühmann
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was er da las, als unmöglich auch nur zu denken vorkam (so etwa, daß ein Soldat ungehorsam sein könne) und gänzlich undenkbar als wirklich geschehen, las er wie durch das Gefühl gebannt, als erzähle ihm jemand ein Geschehnis, das sich mit ihm, Pavlo selber, ereignet, er hatte es bislang nur noch nicht gewußt. — „Er saß nun am Rande einer Grube, in die er einen flüchtigen Blick warf.“ — Pavlo hatte noch nie am Rande einer Grube gesessen; nun fühlte er, wie ihr Abgrund ihn zog. Oder stürzte er schon dem Blutwasser entgegen, das da unten versickernd mit Unrat sich mischte?
    Die Erzählung war so weitergegangen, daß der Offizier dem Reisenden den Exekutierungsapparat und dabei das Wesen der Strafkolonie, ein Ideal der Zucht und Ordnung, das er von Reformen ausgelaugt glaubte, an ihrer Justiz zu erklären versuchte, um den fremden Gast für seine Partei, die Wahrer des Alten, zu gewinnen; und Pavlo sah den Apparat in dem düsterfahlen Tal des Sandlands, und er sah ihn zwischen den Hängen des Buches, das er in seinen Händen hielt. Er stand dort, schwarz im gilbenden Grund, ein riesig aufgerecktes Insekt in seiner dreifachen Gegliedertheit: drunten das Bett, darauf man den Schuldigen schnallt, mit einem Filz, ihm den Mund zu stopfen, und — nachdem er die Sühne begriffen — einem Napf Reis als letztes Mahl; darüber an einem Stahlband die gläserne Egge, die dem Schuldigen mit Tausenden Nadeln zwölf Stunden lang das Gesetz auf den Leib schreibt, um ihm schließlich mit einem stählernen Stachel den Todesstoß durch die Stirn zu geben; und oben, eine Truhe gleich dem Bett, der Zeichner, der jeweils die Züge der Egge lenkt, ein höchst kunstvolles Rädersystem, erdacht und geformt vom Genius des Einen, der einst Schöpfer der Strafkolonie gewesen und auch nach seinem Tod noch Haupt der Partei war, zu der auch der Offizier gehörte. — Pavlo sah ihn den Zeichner einstellen; man machte sich dabei die Hände schmutzig, der Offizier wusch sie in schmutzigem Wasser und, als dann das Wasser zu schmutzig war, im Sand. Der Verurteilte und sein Wächter sahen zu; und Pavlo sah ihnen zu, wie sie zusahn, er sah alle durch die gläserne Egge und er kannte keines ihrer Gesichter, und sie waren ihm doch alle bekannt.
    „‚Dann ließ ich dem Mann die Ketten anlegen. Das alles war sehr einfach.‘“ — Keiner von Pavlos Bekannten trug Ketten. — Der Soldat scharrte gelangweilt im Boden; der Verurteilte, in stumpfer Neugier, zog ihn näher zur Maschine hin. — Er weiß noch nicht einmal, daß er angeklagt und verurteilt wurde, dachte Pavlo, der es aus dem Papierbuch wußte, und nun wird es ihm auf den Leib geschrieben. — Der Verurteilte wurde aufs Bett geschnallt und zugerichtet; Pavlo spürte das Buch schwer in seinen Händen; der Verurteilte erbrach sich. — Der Offizier war empört: „‚Wie kann man ohne Ekel diesen Filz in den Mund nehmen, an dem mehr als hundert Männer im Sterben gesaugt und gebissen haben?‘“ — Pavlo fühlte, wie es ihn würgte. — „‚Alles Schuld des Kommandanten!‘ schrie der Offizier und rüttelte besinnungslos vorn an den Messingstangen, ‚die Maschine wird mir verunreinigt wie ein Stall.‘ Er zeigte mit zitternden Händen dem Reisenden, was geschehen war. ‚Habe ich nicht stundenlang dem Kommandanten begreiflich zu machen gesucht, daß einen Tag vor der Exekution kein Essen mehr verabfolgt werden soll. Aber die neue milde Richtung ist anderer Meinung. Die Damen des Kommandanten stopfen dem Mann, ehe er abgeführt wird, den Hals mit Zuckersachen voll. Sein ganzes Leben hat er sich von stinkenden Fischen genährt und muß jetzt Zuckersachen essen! Aber es wäre ja möglich, ich würde nichts einwenden, aber warum schafft man nicht einen neuen Filz an, wie ich ihn seit einem Vierteljahr erbitte.‘“
    Wie kann das nur enden? dachte Pavlo; der Offizier schien ihm im Recht, und eben das schien ihm jetzt unerträglich. — Der Offizier entwickelte seinen Plan, den Kommandanten mit Hilfe des Reisenden zum Geist des Alten zurückzuführen; der Reisende müsse da einfach helfen, die Gelegenheit sei einzigartig, und der Reisende, nach einem Zögern, lehnte ab. — Es gibt ein Drittes! dachte Pavlo; die Erkenntnis war ein schwarzer Blitz. — „‚Das Verfahren hat Sie also nicht überzeugt‘“, fragte der Offizier; „nein!“ schrie Pavlo. — Der Reisende schwieg. — Der Soldat hockte dieweil vor dem Bett im Sand und freundete sich mit dem Gefesselten an, und da
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