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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen
Autoren: Franz Fühmann
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ein winziges Röhrchen, in der Hand ununterschieden von denen mit Abführ- oder Abtreibungspillen; die Leseplättchen bestenfalls — das heißt in veralteten Systemen — ein daumennagelgroßes Plaststück, zumeist jedoch von vornherein nur integrierter Teil der Maschine, abrufbar durch Fingerdruck auf Felder, wie man sie von jedem Computer kennt (so stellt man auch Wasch- oder Wahlmaschinen, Addierer, Wecker und Wohnzellenfinder ein), und die Schrift, die dann erschien, war ein Normgebilde aus Rasterpunkten wie jede Informationsübermittlung, unfühlbar, unhörbar, unriechbar, unschmeckbar, und in keinem natürlichen Größenverhältnis zu einem menschlichen Organ. Am wenigsten zum Menschenauge.
    [1]   Ganz abgesehen von den sogenannten Inhaltskonzentraten für Kulturwissensspeicher (zum Beispiel: „Macbeth. Fünfakter in Blankversen von W. Shakespeare /1564?-1616/; behandelt das Hinwegfegen eines ungerechten Tyrannen durch ein Volksheer“ — so in Uniterr; in Libroterr sah dies Konzentrat so aus: „Macbeth. Fünfakter von Shakespeare, William /1564-1616/; zuteilbar der Gamma-II-Zp 2a -Struktur des tragokonfliktären Zusammentreffens dreier ungelöster Ödipalkomplexe [fmm] innerhalb archaofeudaler Soziomikrogefüge“).
    Das Papierbuch war zuerst einmal handlich; es lag (und nun sagen wir es für Pavlo, der vergebens um einen Vergleich sich mühte) in der Hand wie ein Vogel in seinem Nest, und jede seiner Seiten war ein Gebilde, das ringsum mit Blicken abschreitbar war, ein Maß an Raum, in sich geschlossen, und damit ein Maß auch für die Zeit. Dies Maß war menschlich, weil überschaubar; man konnte mit ihm disponieren und sich vornehmen, noch zwei Seiten zu lesen, oder drei, oder sieben, oder hundert — auf dem Leseschirm oder unter der Leselupe zog die Schrift ohne erkennbares Ende sich hin, zwar in ihrer Geschwindigkeit regulierbar und nach Wunsch auch jederzeit anzuhalten, doch der Text, der dann verharrte, war eine diffuse Folge von Wörtern, amorph, perspektivlos, ein zufälliger Ausschnitt, darin oft noch nicht einmal ein Satz aufschien. Was beim Papierbuch ein geistiger Raum war, wurde im Lesegerät ein Fließband, auf Knöpfchendruck von Ort zu Ort ruckend, daß die Akte der Rezipierung geschähen, mechanische Zugriffe des Hirnes; und wenn der Benutzer dieses Band auch auf dem Gesamtweg begleiten konnte, erschien ihm dieser doch niemals faßbar. Im günstigsten Fall war der Text Zitat. — Einem Mikrofilmröhrchen entnahm man nicht sinnenhaft, wieviel Lesezeit es in sich barg; beim Papierbuch wog man mit Hand und Auge, man sah, wen man da vor sich hatte, und als stelle es sich vor, trug es auf dem Einband seinen Namen als Titel, bei diesem hier:
In schwerer Zeit.
— Es stammte aus dem gleichen Jahr wie der Kassenzettel bei Jirros Vater und enthielt, in noch nicht anglisiertem Deutsch, drei als „Erzählungen“ charakterisierte Texte; Pavlo hatte nie vordem von ihnen gehört, und auch die Verfasser waren ihm unbekannt.
    Die erste Erzählung hieß „In der Strafkolonie“ und begann folgendermaßen: „‚Es ist ein eigentümlicher Apparat‘, sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat. Der Reisende schien nur aus Höflichkeit der Einladung des Kommandanten gefolgt zu sein, der ihn aufgefordert hatte, der Exekution eines Soldaten beizuwohnen, der wegen Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten verurteilt worden war. Das Interesse für diese Exekution war wohl auch in der Strafkolonie nicht sehr groß. Wenigstens war hier in dem tiefen, sandigen, von kahlen Abhängen ringsum abgeschlossenen kleinen Tal außer dem Offizier und dem Reisenden nur der Verurteilte, ein stumpfsinniger, breitmäuliger Mensch mit verwahrlostem Haar und Gesicht, und ein Soldat zugegen, der die schwere Kette hielt, in welche die kleinen Ketten ausliefen, mit denen der Verurteilte an den Fuß- und Handknöcheln sowie am Hals gefesselt war und die auch untereinander durch Verbindungsketten zusammenhingen. Übrigens sah der Verurteilte so hündisch ergeben aus, daß es den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme.“
    Pavlo las; und obwohl er bei vielen Wörtern um eine Deutung verlegen gewesen wäre (er wußte zum Beispiel nicht, was eine Strafkolonie war), bedeutete ihm Wort für Wort immer mehr, denn wiewohl ihm fast alles,
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