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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen
Autoren: Franz Fühmann
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Der Schlaf der Vernunft, sagt Goya, gebäre Ungeheuer; das Stocken des Widerspruchs treibt Monstren heraus. Ich werde kaum etwas einwenden können, wenn man diese Geschichten als monströs bezeichnet.
    Auf die gewißlich zu erwartende Frage eines künftigen Lesers, ob ich weiterhin
SAIÄNS-FIKTSCHEN
schreiben werde, antworte ich ohne Zögern mit Nein!

DIE OHNMACHT
    „Es ist ganz einfach“, sagte Janno, „die Versuche mit der Raumkrümmung mußten ja in die Irre führen; der Effekt beruht auf der Krümmung der Zeit. Nein, bildlich vorstellen kann man es sich nicht, schon das Wort ‚Krümmung‘ ist ganz modellhaft zu denken: das Abbiegen in die fünfte Dimension. Wenn die Zeit — oder genauer: das Zeit-Raum-Kontinuum — sich dorthin krümmt, und das tut es in bestimmten Intervallen, lappt ein Stück Zukunft in die Gegenwart über, der Zeitstrom beschreibt eine Art Schleife, und der Gegenwartspunkt wird zweimal durchmessen. Im Grunde genommen ist alles recht einfach.“
    „Warum hört man dann so wenig davon?“
    Janno hob höflich bedauernd die Schultern. „Das Verfahren ist praktisch ohne Bedeutung; der Krümmungsradius ist winzig, in der Regel Bruchteile von Mikrosekunden — wie ließe sich daraus ein Nutzen ziehn?“
    „Kann man solche Zeitstäubchen überhaupt fassen?“
    „Nur im Bereich der Elementarteilchen, aber Pavlo nutzt den Umstand aus, daß sich die Schleife zu besonderen Kausalitätsballungspunkten hin erheblich erweitert, auf ein paar Sekunden bis zu einer Minute.“
    „Aber das müßte doch von enormer Bedeutung —“
    „Nein, es ist trotzdem irrelevant. Der Effekt funktioniert nur im Nahbereich und ist auf die Person des Versuchsträgers bezogen; militärisch wäre er nicht verwertbar, und der individuelle Aspekt gilt als unerheblich. Ob man das, was einem sowieso gleich geschehn wird, etwas früher oder später wahrnimmt, interessiert doch die Gesellschaft nicht.“
    „Das heißt, man sieht nur eigene Zukunft?“
    „Nur sie, und die dafür notwendige Umwelt. Deshalb ist Pavlo ja auch abgekanzelt worden: individualistische Spielereien, prognostischer Formalismus, elitäre Intellektualistik — na, du kennst ja die Kategorien. So macht er’s halt nur noch gelegentlich, privat, für die Freunde seiner Freunde doch mit einem Trinkgeldchen, mußt du wissen.“ Der Besucher nickte so reflexhaft, wie man zu Selbstverständlichem nickt. „Und wann tritt jener Kausalkomplex ein, dieser Ballungspunkt, von dem du gesprochen?“
    „Den berechnet ein Chemocomputer an dir; die Formeln dafür sind kompliziert, gewisse Tensoradditionen, die sehr von einer individuellen Konstante, dem sogenannten AK-Quotienten, abhängen, der wieder die Größe der Zykloide — aber nein, lassen wir das.“ Er blickte beschwörend auf seinen Besucher. „Das heißt: Willst du’s nicht überhaupt lassen? Ich rate dir wirklich dringend ab.“
    „Ist es denn schmerzhaft?“ fragte der Gast, ein städtisch gekleideter Mann in der Mitte der Vierzig. In seiner Stimme jene Angst, die der Laie vor Apparaturen empfindet.
    Janno lachte, doch es klang nicht belustigt. „Physisch natürlich überhaupt nicht . . .“
    „Aber?“
    „Moralisch; darum warne ich dich. Dieses Ohnmachtsgefühl schafft jeden, wie sehr er’s auch abzuleugnen versucht. Vor allem wenn man den Versuch wiederholt, doch das lehnt Pavlo jetzt grundsätzlich ab, und die meisten verzichten auch stillschweigend drauf. — Der Vorgang selbst ist ganz primitiv. Du tunkst deine Augen in ein Becken mit einem plasmaähnlichen Stoff — nein, keine Sorge, es ist kein Feuer, nur ein merkwürdiges hellblaues Flirren, aber auch keine Elektrizität. Eigentlich spürst du gar nichts, weder Wärme noch riecht es; auch nicht die mindeste Nachwirkung. Sobald nun dies Flirren, ein zerfallendes Logo-Alkaloid, in die Poren deiner Aura eindringt, bestimmt der Chemocomputer die nötigen Werte, und schon siehst du dein Läppchen Zukunft, dessen Entfernung vom dann gegenwärtigen Zeitpunkt der Computer an einer Skala zeigt. Die Augen mußt du natürlich auftun, aber du spürst nicht einmal einen Hauch, es sei denn in deinem Portemonnaie. Auch Pavlo steigert seine Preise; ein Pfundchen wirst du wohl anlegen müssen. Laß dir nochmals —“
    Da habe er sich mehr vorgestellt, unterbrach der Besucher; und er wollte den Einwurf, daß ein Pfundchen immerhin einem Liter Scharfen oder sechs Geld-Bon-Essen mit Obst und trinkbarem Kaffee entspreche und daß solch ein Betrag auch für
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