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Philosophenpunsch

Philosophenpunsch

Titel: Philosophenpunsch
Autoren: Hermann Bauer
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    Schnee!
    Wie zu keiner anderen Zeit im Jahr hofften die Menschen jetzt, ein paar Tage vor Weihnachten, darauf. Sie hofften mit erstaunlicher Beharrlichkeit, obwohl diese Hoffnung durch keine statistischen Daten untermauert wurde und auch der tägliche Wetterbericht keineswegs vielversprechend war. Die Stadt Wien präsentierte sich grau in grau und blieb so für gewöhnlich bis ins neue Jahr hinein. Was nützte es aber, wenn der Himmel sich dann, im Jänner oder Februar, einmal öffnete und seine weiße Pracht über die Straßen ausschüttete? Die Autofahrer fluchten, die Schneeräumungsdienste kamen nicht nach, und die Menschen konstatierten verärgert: »Des ham ma braucht!« Jetzt, zu Weihnachten sollte es weiß sein, einen Tick zumindest, nicht nur auf den Postkarten, in den Schaufenstern und in den kitschigen Filmen, sondern auch in der Wirklichkeit.
    Weiße Weihnachten – das gab dem Fest doch erst seinen Sinn, oder? Beinahe jeder erinnerte sich verklärt an Momente seiner Kindheit, als die Flocken genau im richtigen Moment zur Erde niedergefallen waren, um die Herzen der Menschen zu erwärmen und ein Leuchten in ihre Augen zu bringen. Blieb der Schnee zum Weihnachtsfest aus, galt das als schlechtes Omen, vielleicht sogar als Vorbote des Klimawandels. Man war dann einfach nur mit der halben Freude dabei.
    Frau Heller, die Chefin des gleichnamigen Floridsdorfer Traditionscafés, hielt sich in diesen Tagen weniger als sonst in ihrer kleinen Küche auf. Auch das Legen von Patiencen oder das Lösen von Rätseln, wenn gerade wenig zu tun war, ließ sie bleiben. Immer öfter stand sie hinter der Theke, blies den Rauch ihrer Zigarette sinnierend durch ihre Nasenlöcher und schaute durch die großen Fenster hinaus ins Freie. Wie so viele andere, hoffte auch sie auf Schnee.
    »Ein paar Flankerln könnte es doch wenigstens herunterschneien«, meinte sie kopfschüttelnd zu Leopold, während sie die Asche abstaubte. »Da käme man gleich ein bisschen in weihnachtliche Stimmung.«
    Oberkellner Leopold enthielt sich jeglichen Kommentars. Schweigend, nur begleitet von einem diensteifrig genäselten »Bitte sehr, der Herr«, »Wohl bekomm’s die Dame«, ging er von Tisch zu Tisch und servierte den kleinen Braunen, die Melange oder das Achtel Rot. Schnee! Bloß das nicht, oder zumindest so spät wie möglich, denn ganz verhindern ließ sich diese Caprice des Winters offenbar nicht. Schnee war für Leopold etwas, das endgültig seinen flüssigen Aggregatzustand einnahm, sobald ein Gast von der Kälte draußen in die lauschige Wärme des Kaffeehauses wechselte. Dann rann der Saft unweigerlich von den Haaren auf die Brille, von der Brille auf den Mantel, vom Mantel auf die Schuhe und von dort oder irgendwo anders auf den Boden. Überall bildeten sich Tröpfchen, kleine Lackerln und Pfützen. Und wenn ein Gast dann noch unvorsichtigerweise seinen Mantel anbehielt, während er auf der gepolsterten Bank Platz nahm, war das Unglück vollends geschehen. Dann konnte es Stunden, Tage und Wochen dauern, bis alles trocken wurde und man wieder jemanden dorthin setzen konnte.
    Frau Heller blickte verklärt zur Straßenbahnhaltestelle, die unmittelbar vor dem Café Heller lag, hinaus. »Wissen Sie noch, wie es früher war, Leopold?«, erinnerte sie sich. »Früher, als hier noch offene Straßenbahngarnituren gefahren sind? Da haben unsere Schüler vom Gymnasium nebenan nur auf den ersten Schnee gewartet. Kaum war es so weit, haben sie sich unweit der Haltestelle versammelt und die armen Menschen in der Straßenbahn mit Schneebällen beworfen, sobald ein Zug losfuhr. Und unsere Fenster haben natürlich auch etwas abgekriegt.«
    »Heute schießen die Schüler bereits mit ganz anderen Dingen«, bemerkte Leopold knapp. »Da wären die Menschen in der Straßenbahn tot und unsere Fenster kaputt.«
    »Leopold, Leopold, Ihnen fehlt jeglicher Sinn für Nostalgie und Romantik«, seufzte Frau Heller. »Glauben Sie, ich bemerke es nicht? Sie denken schon wieder an alle möglichen Verbrechen. Dabei steht Weihnachten vor der Tür! In dieser Zeit sollten die Menschen doch wirklich friedlich miteinander umgehen.«
    »Friedlich? Das würde Ihnen so passen!«, zischte Leopold jetzt angriffslustig in Richtung seiner Chefin. Er gab es nicht gern zu, aber mit dem Tod seiner Eltern war der Zauber der Weihnacht für ihn erloschen. Er hatte nun niemanden mehr, dem das Feiern des Festes, das traute Zusammensein um den Christbaum, das Geben und Nehmen von
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