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Philosophenpunsch

Philosophenpunsch

Titel: Philosophenpunsch
Autoren: Hermann Bauer
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sein? Leopold bekam jetzt doch ein schlechtes Gewissen, denn er dachte nicht oft an seine Tante, seit sie da oben auf der Landkarte, weit weg von ihm, wohnte. Seit kurzer Zeit lebte sie ja allein. Ihr Mann, sein Onkel Ignaz, hatte im Sommer plötzlich das Zeitliche gesegnet. Beim Begräbnis an einem kühlen, regnerischen Julitag hatte Leopold Agnes Windbichler zum letzten Mal gesehen. Damals hatte sie ihm leidgetan. Ein wenig kleiner als früher war sie ihm vorgekommen, ein wenig zarter, wohl gezeichnet von der Trauer und dem Schicksalsschlag. Ob sie sich schon wieder erholt hatte?
    Ein bisschen hatte sie schon wieder gelächelt, als er ihr nach der Trauerfeier zum Abschied die Hand gedrückt und anstandshalber gemurmelt hatte: »Weißt eh, Tante Agnes, wenn du einmal etwas brauchst …«
    »Tschopperl«, hatte sie da gleich abgewunken. »Ich komm schon zurecht. Ich hab genug Freunde hier, die mir helfen, und deine Cousine Gerda ist zwar in München mit ihrem Mann und den Kindern, aber gelegentlich wird sie ja vorbeischauen.«
    Das war’s dann auch schon wieder gewesen. Na ja, seine Tante einmal besuchen fahren hätte Leopold schon können an einem Sonntag, einfach schauen, was sie so trieb. Aber der Alltag hatte ihn sie und ihr Schicksal allmählich wieder vergessen lassen. Er hatte darauf vertraut, dass sie immer eine robuste Frau gewesen war, die mit dem Leben gut fertig wurde. Nicht einmal angerufen hatte er sie und sich damit getröstet, dass sie das Telefonieren nie so wirklich gemocht hatte. Es war schon ein Kreuz mit den Verwandten. Ihre Anwesenheit ging einem zwar oft auf die Nerven, aber wenn man sie nicht ständig um sich hatte, konnte es leicht sein, dass man übersah, dass es sie gab. Und jetzt hielt Leopold diesen Brief in seinen Händen, den er schon wieder beinahe vergessen hatte und der so bei seinem Freund Thomas Korber gelandet war.
    »Nun mach endlich auf«, drängte Korber. »Ich will wissen, was drin steht.«
    »Geht dich eigentlich gar nichts an«, gab Leopold unwirsch und auch ein bisschen nervös zurück. Schön langsam war er selbst neugierig auf den Inhalt des Briefes. Jedenfalls sah er auf den ersten Blick, dass es da mehr zu lesen gab als bloß ein paar Weihnachtswünsche.
    ›Lieber Leopold!‹, begann er mühsam, die Schrift seiner Tante zu entziffern. ›Ich möchte mich jetzt, knapp vor Weihnachten, noch einmal für deine Anteilnahme anlässlich des Todes meines geliebten Mannes, deines Onkels Ignaz, bedanken. Nun sind bereits wieder einige Monate ins Land gezogen, und das Schicksal lässt sich langsam leichter ertragen. Deine Cousine Gerda ist immer wieder aus München gekommen, hat mich besucht und sich ein wenig um mich gekümmert. Die Leute hier in Weitra sind auch sehr lieb und lassen mich nicht im Stich. Trotzdem – es kommt der Winter, Leopold, es wird kalt, und die Nächte sind furchtbar lang. Da ist es schwer für eine arme, alte Frau wie mich. Ich denke zu viel nach. Gerda kommt mich erst übers neue Jahr wieder mit ihrem Mann besuchen. Aber ich gehöre doch jetzt auch unter die Leute, wo das schönste Fest des Jahres seinen Einzug hält. Da habe ich an dich und deine nette Einladung gedacht.‹
    Einladung? Leopolds Hände begannen unmerklich zu zittern. Konnte man wirklich so weit gehen, sein damaliges Höflichkeitsangebot als Einladung aufzufassen? Angespannt las er weiter:
    ›Ich werde deshalb zu Weihnachten zu dir kommen. Ich war schon lange nicht in Wien und freue mich auf diese große, schöne Stadt. Vielleicht kennen mich noch ein paar Leute von früher, das heißt, hoffentlich leben meine Bekannten überhaupt noch. Jedenfalls werden wir uns ein paar schöne Tage machen und ein friedliches Fest miteinander feiern. Für deine Unkosten werde ich selbstverständlich aufkommen.
    Ich komme am Freitag, dem 20. Dezember, um dreiviertel elf bei euch am Franz-Josefs-Bahnhof an. Es wäre furchtbar nett, wenn du mich abholen würdest, aber wenn sich das mit deinem Dienst nicht ausgeht, weiß ich ja immerhin, wo das Kaffeehaus ist, in dem du arbeitest.
    Ich freue mich schon sehr auf unser Wiedersehen!
    In Liebe, deine Tante
    Agnes Windbichler‹
     
    Leopolds Gesicht nahm eine kreideweiße Farbe an, während er den Brief zusammenfaltete. Er musste einen äußerst besorgniserregenden Eindruck machen, denn Thomas Korber war auf das Schrecklichste gefasst. »Was ist los mit deiner Tante?«, fragte er. »Ist sie krank? Geht es zu Ende mit ihr?«
    Leopold versuchte mit Mühe, seine
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