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Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen
Autoren: Franz Fühmann
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Wahnsinnstraum einer Hoffnung fiel, entdeckte er, daß sein Traum kein Traum war: Die Tür war nicht in ihr Sperrschloß geschnappt, der Weg in die Freiheit lag offen vor ihm. — Geruch von Moder, Geruch von Moos; es konnte kein Überlegen geben! — Leise, leise schob Pavlo die Tür auf und wagte einen Blick hinaus: „Unter dem Schutz eines fahlen Dunkels bemerkte er zunächst ein Halbrund aus irdenem Mauerwerk, in das Stufen spiralenförmig eingelassen waren; und oben, ihm gegenüber, fünf oder sechs Steinstufen hoch, eine Art von schwarzem Torbogen, der auf einen weiten Gang führte, von dem er von unten her nur die ersten Gewölbebogen sehen konnte.“
    Pavlo legte sich auf den Boden und kroch bis an den Rand der Schwelle: Der Wandelgang zog sich unermeßlich dahin, doch er war der Gang in die Freiheit! Ein bleiches Licht, die bläuliche Nacht des Mondes und der ziehenden — Wolken. Seitwärts gab es auf der ganzen Strecke nicht eine einzige Tür, allein Pavlo wußte: Er war gerettet! Er würde es schaffen! Und wenn — und nun verstand er den Titel! —, und wenn die Hoffnung mit ihren Gefahren, die dieser Weg in die Freiheit brachte, ihn auch bis ans Ende der Nerven martern sollte, es würde und es mußte gelingen —: Einmal einen Schritt in die Freiheit getan — wie sollte man da aus der Bahn kommen können! — Pavlo, lesend wie ein Entrückter, dachte nicht darüber nach, warum ihn das Wort „Freiheit“ so bannte, ja es fiel ihm nicht einmal auf; gierig glitt sein Blick die Zeilen entlang, gierig glitt er auf den Fliesen, und es geschah, wie er erwartet: Er wurde geprüft bis ans Ende der Nerven; es war die Matter der Hoffnung, und er überstand. Mönche traten aus dem Dunkel, er preßte sich in die Mauernischen, er fürchtete sein rasendes Herz, er fürchtete den glitzernden Schweiß auf der Stirne und wußte doch, daß er es schaffen würde, flach, nichts als ein Schatten auf dem Boden, glitt weiter, wurde wieder ein Stück der Mauer, und hörte über sich einen theologischen Disput zweier sich ergehender Inquisitoren, und der „eine der beiden, seinem Gesprächspartner lauschend, schien den Rabbiner anzusehen! Und unter diesem Blick, dessen zerstreuten Ausdruck er zunächst nicht erfaßte, glaubte der Unglückliche zu spüren, wie sich die heißen Zangen von neuem in sein armes Fleisch bohrten; wieder also würde er eine einzige Klage, eine einzige Wunde werden. Fast ohnmächtig, nicht mehr in der Lage zu atmen und mit zitternden Augenlidern erschauerte er, als ihn das Gewand streifte. Doch wie seltsam und gleichzeitig natürlich: Die Augen des Inquisitors waren offensichtlich die eines Mannes, der voll und ganz mit dem beschäftigt ist, was es zu antworten gilt, der ganz und gar von dem Gedanken an das eingenommen ist, was sein Ohr trifft, sie waren geradeaus gerichtet — und schienen den Juden anzusehen, ohne ihn wahrzunehmen.
    Und wirklich, nach einigen Minuten setzten die beiden unheilverbreitenden Sprecher langsamen Schrittes und mit leiser Stimme weiterredend ihren Weg in Richtung auf die Stelle fort, von der der Gefangene gekommen war: er war nicht gesehen worden!“
    Weiter, nur weiter! — Schreckgesichte allüberall, nun spukten die Mönchsfratzen aus der Mauer; weiter, nur weiter, Zeile um Zeile, Pavlo glitt hin, das Ende der Seite, und da war er am Ende des Ganges, und da lag eine schwere Tür. Er tastete sie ab: Kein Riegel; kein Schloß; dann: Ein Drücker! Der Drücker gab unter seinem Daumen nach: Leise öffnete sich die Tür vor ihm.
    Bläuliche Nacht, ihre wehenden Düfte; der Gemarterte sah in die Freiheit hinaus, und nun, aufatmend, in der Rettung geborgen, kam Pavlo plötzlich der Gedanke, daß diese Erzählung gewiß nicht zufällig der abstrusen ersten jenes — wie hieß der Verfasser doch? ach ja: Kafka — nachgestellt war: Sie korrigierte ihre Vorgängerin mit einem echten, richtigen Ende, und sie korrigierte mit diesem Schluß auch die Rede des Großinquisitors, der eine Rettung durch die Marter der Flammen in das Jenseits des Himmels verheißen —: Nein, die Rettung lag hienieden auf Erden, durch die Marter der Hoffnung in die Freiheit, so ging der Weg, und nun war er geendet — schimmernd lag der Garten da! Pavlo schaute verzückt in das Buch: bläuliche Nacht in seiner Zelle, vorm Fenster der Mond und die ziehenden Wolken, und die Düfte der offenen Nacht! Pavlo wollte nicht weiterlesen, es war ja schon alles am glücklichen Ende; wäre da die Bestätigung nicht
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