Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen
Autoren: Franz Fühmann
Vom Netzwerk:
stehen hatte. Der Scharführer stand nun wieder vor ihm. Er sah den Häftling wie immer voll Freude an. Der Häftling, ein Mann von neunundfünfzig Jahren, stand stramm, wie es befohlen war, die gestreifte Mütze vom Kopf gerissen, die Hände an die gestreifte Hose gepreßt. ‚Da ist er ja, unser kleiner Liebling‘, sagte der Scharführer. ‚Er hat sicher die ganze Nacht schon darauf gewartet.‘ 441825 hatte ‚Jawoll!‘ zu sagen und den Scharführer dabei anzusehn. ‚Jawoll!‘ sagte 441825, und seine Stimme war grau, und sein Blick war Todesangst. ‚Na denn guten Morgen!‘ sagte der Scharführer und schlug 441825 auf die Nase, diesmal mit der flachen Hand auf den Nasenrücken. Es war nur ein Klaps. 441825 spürte sein Gesicht zerplatzen, doch es war weiter nichts, es floß nicht einmal Blut.“
    Und am nächsten, dem sechshundertundvierzigsten Tag, wieder. — „441825 stand wie immer in der vordersten Reihe, die gestreifte Mütze vom Kopf gerissen, die Hände an der gestreiften Hose. Wieder stand der Scharführer, vor ihm und sah 441825 voll Freude an. 441825 begann zu zittern. ‚Da ist er ja, unser kleiner Liebling‘, sagte der Scharführer strahlend. ‚Er hat sicher die ganze Nacht schon darauf gewartet.‘ — ‚Jawoll!‘ sagte 441825. Seine Stimme war ein Röcheln; er schloß die Augen. Totenstille, kein Schlag kam. Eine Ewigkeit stand 441825 so, und eine Ewigkeit war Totenstille, dann schlug 441 825 die Augen auf und sah den Scharführer vor sich stehen. ‚Na denn guten Morgen!‘ sagte der Scharführer und schlug 441825 auf die Nase. Diesmal schlug er von rechts her, ein wenig stärker als sonst, aber auch diesmal floß kein Blut. 441825 heulte ganz leise auf. ‚Na, na!‘ sagte der Scharführer. 441825 stand stumm. Er fühlte seinen Kopf wie eine Geschwulst. Der Scharführer lachte und ging weiter.“
    Ich werde wahnsinnig, dachte alles in Pavlo. — „jeden Tag bekam 441825 zum Morgenappell seinen Nasenstüber. Schlimmeres geschah ihm nicht. Er wurde bei der Arbeit geschont, auf ausdrücklichen Befehl des Lagerführers. Er gehörte zum Kartoffelkratzkommando. Er hatte beinah satt zu essen. Er wurde nicht auf den Bock geschnallt, er wurde nicht in den Steinbruch gestoßen, er wurde nicht mit ausgekugelten Armen an den Ast eines Baums gehängt. Er wurde nicht in der Latrine gebadet, jeder im Lager kannte ihn, und er wurde von allen beneidet. Alle fragten, womit 441825 sich solche Vorteile erkaufe. 441825 hatte eine Pritsche allein, aber er schlief nicht länger als drei Stunden, und auch da träumte er von dem Nasenstüber und fuhr schreiend aus dem Schlaf. Seine Kameraden hätten ihn gern verprügelt, doch das war vom Lagerkommandanten aufs strengste verboten, und der Blockälteste paßte auf.“
    Jetzt kam der sechshundertfünfzigste Tag. — „So kam der 650. Tag. 441825 stand zum Morgenappell in der vordersten Reihe, und als er den Scharführer kommen hörte, winselte er wie ein Hund. Er stand, wie es befohlen war, die gestreifte Mütze vom Kopf gerissen, die Hände an der gestreiften Hose, doch er konnte das Winseln nicht unterdrücken. Aus dem Blick der Häftlinge scholl unhörbares Gelächter auf. Der Scharführer stand nun vor 441825, und der hörte noch immer nicht auf zu winseln. Der Scharführer sah ihn vorwurfsvoll an, jetzt schlägt er mich tot! dachte 441825, und er dachte es als seine Erlösung. Der Scharführer sah ihn stumm an und ging weiter. 441825 winselte noch immer. Er hörte den Scharführer weitergehen und dachte zuerst, daß er wahnsinnig sei. Dann dachte er, daß der Scharführer an ihm genug habe, und dann dachte er, daß er nun gelernt habe, das zu tun, was man von ihm verlangte. Im Lager wurde nichts erklärt. Es wurde so lange geschlagen, bis man begriff, was zu tun war. Einer mußte täglich nach der Mittagssuppe auf dem Kopf stehn und krähen, und er wurde so lange wortlos geschlagen, bis er schließlich auch das begriff. Nun hab ich’s begriffen, nun ist es zu Ende! dachte 441825. Es war der glücklichste Tag seines Lebens, aber in der Nacht schlief er keine Stunde. Er dachte, daß er nun ein Hund sei und winseln müsse, wie ein Hund winselt, jeden Morgen zum Morgenappell winseln, alle Tage, bis an sein Lebensende, dann bekam er keinen Nasenstüber mehr. Er war glücklich und konnte dennoch nicht schlafen. Am nächsten Morgen, dem 651. Tag im Lagerleben des 441825, stand 441825 wie immer in der vordersten Reihe, die gestreifte Mütze vom Kopf gerissen, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher