Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Saiäns-Fiktschen

Saiäns-Fiktschen

Titel: Saiäns-Fiktschen
Autoren: Franz Fühmann
Vom Netzwerk:
zu viel? — Er war voller Ekstase. —
    „Er war voller Ekstase.“ — Pavlo las diesen Satz, noch diesen, zum Abschluß, da schien es ihm, als sähe er die Schatten seiner Arme auf der Seite des Papierbuchs, und er las:
    „Da schien es ihm, als sähe er die Schatten seiner Arme auf sich zukommen: Ihm war, als fühlte er, wie diese Schattenarme ihn umschlangen, umwanden, und wie er sanft gegen eine Brust gedrückt wurde. In der Tat, da stand eine hohe Gestalt neben der seinen. Voller Vertrauen senkte er den Blick auf diese Gestalt — stand da, keuchend, wie toll geworden, mit trübem Auge, am ganzen Leibe zitternd, die Wangen gebläht und Schaum vor dem Munde.
    O Schrecken! Er lag in den Armen des Großinquisitors selbst, des ehrwürdigen Pedro Arbuez d’Espila, der ihn anschaute, die Augen voll dicker Tränen und mit der Miene eines guten Hirten, der sein verlorenes Schaf wiederfindet!
    Der düstere Priester preßte den unglücklichen Juden mit einer so heftigen Bewegung der Barmherzigkeit an sein Herz, daß das rauhe mönchische Büßerhemd unter dem Ordenskleid die Brust des Dominikaners wund rieb. Und während Rabbi Aser Abarbanel, dessen Augen unter den Lidern hervortraten, in den Armen des asketischen Dom Arbuez röchelte und nur wirr begriff, daß alle Phasen dieses schicksalsschweren Abends nur eine vorgesehene Marter, nämlich die der Hoffnung, waren, flüsterte ihm der Großinquisitor im Tone eines stechenden Vorwurfs und betroffenen Blickes mit heißem, vom Fasten verderbtem Atem ins Ohr:
    ‚O mein Kind! Am Vorabend des möglichen Heils . . . wolltet Ihr uns also verlassen!‘“
    Das Papierbuch; Pavlo hielt das Buch in der Hand; er hielt es geschlossen, blaugrauer Einband, die bläuliche Nacht vor dem Zellenfenster, und Pavlo lag an die Mauer gepreßt, und die beiden Inquisitoren sahen ihn liegen, wie hießen sie: Kafka und Wiljährdelillada; die dritte Erzählung, hinter ihr das Ende; sie war nur sieben Seiten lang. — Pavlo suchte das letzte Wort, es hieß „genug“. — Gab ihm das Kraft? Was sollte Pavlo denn tun als lesen; er war schon zu solcher Art verändert, daß er weiterlesen mußte, und diesmal las er erwartungslos.
    Die Erzählung hieß „Der Nasenstüber“, und Pavlo erfuhr sofort, was das war. Es war ein leichter Schlag auf die Nase, ein Klaps nur, auf den Nasenrücken, oder von der Seite her auf einen der Nasenflügel, manchmal auch nur ein Fingerschnipsen von unten gegen die Nasenspitze, und der diesen Nasenstüber austeilte, war ein Wächter, und der ihn empfing, ein Häftling in einem der Konzentrationslager des zwanzigsten Jahrhunderts; Pavlo, wie jeder in Uniterr, wußte, was ein Konzentrationslager war, so wie er wußte, daß es in Uniterr keine mehr gab noch je geben konnte. Eine Art Summe von Strafkolonie und Inquisitionskerker, so hatte man sich diese Stätten wohl vorzustellen, und ein Nasenstüber war dort, in einem Alltag des Folterns und Mordens, eine lächerliche Kleinigkeit, von der man doch kein Aufhebens machte, so wie — und Pavlo dachte da lange nach, aber es fiel ihm nichts Vergleichbares ein. So gab er sich selbst einen Klaps auf die Nase, ein kleiner Schmerz, der schnell ums Gesicht lief; ein bißchen Taubheit des Fleischs zwischen Mund und Stirn. — Sonst nichts? — Pavlo wiederholte den Schlag, nun spürte er fast keinen Schmerz mehr, er schlug ein drittes und viertes Mal, schneller, heftiger: nicht einmal ein Brennen; so rasch also gewöhnte man sich. Und dieser Häftling empfing ihn täglich, zum Morgenappell, einen Schlag auf die Nase, nicht grob, nur einen Schlag auf die Nase, nur selten floß Blut. — So ging es ein Jahr und neun Monate lang, jeden Morgen der sechshundertachtunddreißig Tage. — Sechshundertachtunddreißig Schläge auf die Nase, dachte Pavlo, und er schlug ein fünftes Mal: diesmal ein Stechen; und da plötzlich hatte Pavlo begriffen, daß es ja ein Wächter war, der den Häftling schlug, und daß das vielleicht einen Unterschied machte.
    „So kam der 639. Morgen.“ — Der Häftling hatte keinen Namen, er war eine Nummer, 441825, die trug er ins Handgelenk eingeätzt. — Pavlo, das Buch in beiden Händen, schaute auf seine Handgelenke: Seine Nummer war nicht eingeätzt. — Der Autor der Erzählung hieß „Anonym“. — „So kam der 639. Morgen. 441825 stand in der vordersten Reihe. Er stand immer in der vordersten Reihe, es war ein ausdrücklicher Befehl des Scharführers, daß 441825 immer in der vordersten Reihe zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher