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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE
Autoren: Jonathan Kellerman
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zu ersticken.‹
    Ich rief die Dickinson-Residenz an. Diesmal war eine Frau am Apparat. Sie war mittleren Alters und sprach mit einem französischen Akzent.
    Die gleiche Leier, Madame war nicht zu sprechen. Nein, sie wußte nicht, wann Madame zu sprechen sein würde.
    Ich nannte ihr meinen Namen, legte auf und sah mir den Scheck an. All diese Nullen. Die Behandlung hatte noch nicht begonnen, und die Zügel waren mir schon entglitten. So konnte es nicht weitergehen, das war nicht im Interesse der Patientin. Aber ich hatte mich Eileen Wagner gegenüber verpflichtet. Das Tonband hatte mich verpflichtet: »… ein Arzt, der mir helfen kann. Ohne Spritzen!«
    Ich dachte lange darüber nach und entschied mich endlich, es wenigstens so lange durchzuhalten, bis ich Genaueres wußte. Ich wollte sehen, ob ich einen Kontakt zu dem kleinen Mädchen finden könnte und irgendeinen Fortschritt in Gang bringen würde, genug, um die viktorianische Prinzessin damit zu beeindrucken, Dr. Heiland. Dann würde ich meine Forderungen anmelden.
    In der Mittagspause löste ich den Scheck ein.

3
    Dutchy war um die Fünfzig, mittelgroß und dicklich. Er hatte tiefschwarzes, pomadig glattes Haar, den Scheitel auf der rechten Seite, Apfelbäckchen und schmale Lippen. Er trug einen gut geschnittenen, aber altmodischen Doppelreiher aus blauem Serge, ein gestärktes weißes Hemd, quadratisch gefaltetes weißes Kavalierstuch, marineblaue Krawatte mit Windsorknoten und spiegelblank polierte Halbstiefel mit extradicken Absätzen. Als ich aus dem Behandlungsraum kam, standen er und das Mädchen in der Mitte des Wartezimmers. Melissa starrte auf den Teppich, er betrachtete prüfend die Kunstgegenstände. Sein Gesichtsausdruck besagte, daß die Drucke an meinen Wänden diese Prüfung nicht bestanden. Als er sich umwandte, um mich zu betrachten, veränderte sich sein Gesichtsausdruck nicht.
    Er war so gefühlvoll und herzlich wie ein Schneesturm in Montana, aber das Mädchen umklammerte seine Hand, als wäre er der Weihnachtsmann.
    Melissa war klein für ihr Alter, hatte aber ein reifes, wohlgeformtes Gesicht mit großen Augen und Stupsnase. Sie war eines jener Kinder, die schon früh Haltung zeigten und diesen Ernst bis ins Alter bewahrten. Ihr walnußbraunes Haar, das von einem rosa Band mit einem Blumenmuster gehalten wurde, war lang und reichte ihr fast bis zur Taille.
    Ihre Kleidung war zu förmlich für die Schule: Ein gepunktetes rosa Musselinkleid mit Puffärmeln und weißem Satingürtel, rosa Socken und weißen Lackschuhen. Ich mußte an die Begegnung von Alice mit der Herzkönigin im Wunderland denken.
    Die beiden standen da und rührten sich nicht, wie ein Cello und eine Pikkoloflöte in einem seltsamen Duett.
    Ich stellte mich vor, verbeugte mich und lächelte das Mädchen an. Zu meiner Überraschung starrte sie ohne jedes Anzeichen von Furcht zurück. Sie zeigte überhaupt keine Reaktion bis auf einen abschätzenden Blick. In Anbetracht dessen, was sie zu mir brachte, war dies kein schlechtes Resultat.
    Ihre rechte Hand wurde von Dutchys fleischiger Linken umschlungen. Lächelnd streckte ich meine Hand Dutchy entgegen. Er schien wegen dieser Geste überrascht und nahm sie zögernd, ließ sie aber im selben Augenblick wieder los und gab die Hand des Mädchens frei.
    »Ich gehe jetzt«, verkündete er uns beiden, »fünfundvierzig Minuten, stimmt’s, Doktor?«
    »Stimmt genau.«
    Er machte einen Schritt auf die Türe zu. Ich betrachtete das Mädchen und bereitete mich auf ihren Widerstand vor. Aber sie stand nur einfach da, starrte auf den Teppich hinunter und hielt die Hände eng an die Seiten gepreßt.
    Dutchy machte noch einen Schritt, wandte sich noch einmal um und tätschelte den Kopf des Mädchens. Es schien, als lächelte sie ihn zur Beruhigung an.
    »Bye, Jacob«, sagte sie mit einer hohen Stimme, und ihr Atem war dabei zu hören, genau wie auf dem Tonband.
    Dutchy errötete leicht, ließ mit einer steifen Bewegung den Arm sinken und murmelte etwas. Dann warf er mir einen letzten Blick zu und verschwand.
    Nachdem er die Türe hinter sich geschlossen hatte, sagte ich: »Sieht ganz so aus, als ob Jacob ein guter Freund ist.«
    Sie entgegnete: »Er ist das Faktotum meiner Mutter.«
    »Aber er kümmert sich um dich.«
    »Er kümmert sich um alles.«
    »Um alles?«
    »Um unser Haus.« Sie stapfte ungeduldig mit dem Fuß. »Ich habe keinen Vater, und meine Mutter geht nicht aus dem Haus, also erledigt Jacob für uns eine Menge
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