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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE
Autoren: Jonathan Kellerman
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nicht, daß Sie Ihr Leben auf den Kopf stellen, um regelmäßig dort rauszufahren. Ich möchte jemanden, der etwas von seinem Fach versteht. Ich habe Ihre Vorträge gehört und weiß, daß Sie der Richtige für diesen Fall sind. Ein anderer würde vielleicht versagen, dann wird sie sich nie wieder einer Therapie unterziehen. Ich wäre daher sehr froh, wenn Sie den Fall übernehmen könnten, obwohl die Bedingungen nicht optimal sind. Ich werde mich bei Ihnen revanchieren und in Zukunft ein paar ordentliche Fälle an Sie überweisen, okay?«
    »Okay.«
    »Ich weiß, es klingt, als ob ich übermäßig Anteil an diesem Fall nähme, und vielleicht stimmt das auch, aber die Vorstellung, daß eine Siebenjährige anruft - aus diesem Haus…« Sie hob die Augenbrauen. »Außerdem wird es nicht mehr lange dauern, bis mich meine Praxis so voll in Anspruch nimmt, daß ich keine Zeit mehr haben werde, mich derart intensiv mit jemandem zu befassen. Also macht es mir Spaß, solange ich es noch kann, verstehen Sie?«
    Noch ein Griff in die Reisetasche. »Jedenfalls, hier sind die wichtigsten Daten.« Sie reichte mir eine Notiz, auf der sie mit Druckbuchstaben vermerkt hatte:
    Patientin: Melissa Dickinson, geb. 21. Juni 1971 Mutter: Gina Dickinson.
    Und eine Telefonnummer. Ich nahm sie an mich und steckte sie ein.
    »Danke«, sagte sie. Wenigstens wird es mit der Honorierung keine Probleme geben, sie sind nicht gerade arm.«
    Ich fragte: »Sind Sie als ihre Ärztin eingetragen oder haben sie einen anderen Arzt?«
    »Nach dem, was die Mutter sagte, gibt es einen Hausarzt in Sierra Madre, bei dem Melissa von Zeit zu Zeit gewesen ist, ausgewiesen sind Impfungen, Atteste für die Schule, aber keine laufenden Behandlungen. Körperlich ist sie ein kerngesundes Mädchen. Aber der Arzt ist seit Jahren nicht mehr auf dem laufenden. Sie wollte nicht, daß er benachrichtigt wird.«
    »Wieso nicht?«
    »Wegen der ganzen Therapieangelegenheit. Um ganz ehrlich zu sein, ich mußte auf sie einreden. Sie leben schließlich in San Labrador, wo sich die Leute immer noch nicht mit dem zwanzigsten Jahrhundert abgefunden haben. Aber sie wird mitspielen, sie hat es mir versprochen. Ob ich letztendlich ihre Hausärztin sein werde, weiß ich nicht. Aber wenn Sie mir einen Bericht schicken wollen, würde es mich auf jeden Fall sehr interessieren, wie Melissa sich entwickelt.«
    »Klar«, sagte ich, »Sie haben gerade von Attesten für die Schule gesprochen. Geht sie denn trotz ihrer Angstzustände regelmäßig zur Schule?«
    »Bis vor kurzem hat sie das getan. Melissa ist eine sehr gute Schülerin. Ihre Mutter hat mir ganz stolz ihr Zeugnis gezeigt.«
    Ich fragte: »Was meinen Sie mit ›bis vor kurzem‹?«
    »In der letzten Zeit entwickelt sie Anzeichen einer Schulphobie: vage körperliche Beschwerden, Weinen am Morgen, Erklärungen, sie hätte Angst davor, in die Schule zu gehen, so daß die Mutter sie zu Hause behielt.
    In meinen Augen sind das erste unübersehbare Gefahrenanzeichen.«
    »Zweifellos«, sagte ich, »vor allem bei ihrem Rollenmodell.«
    »Ja, die alte biopsychosoziale Kettenreaktion. Man braucht nur genügend Krankengeschichten zu sammeln, und alles, was man sieht, sind Kettenreaktionen.«
    »Kettenpanzer«, fügte ich hinzu, »undurchdringliche Abwehr, das ist schwer zu knacken.«
    Sie nickte. »Aber vielleicht kriegen wir den hier auf, hm? Wäre das nicht ein Lichtblick?«
    Ich hatte den ganzen Nachmittag über Patienten bei mir und arbeitete mich durch einen Stapel von Karten hindurch. Als ich meinen Schreibtisch aufräumte, hörte ich mir das Tonband an.
    Frauenstimme: Cathcart Sorgentelefon.
    Kinderstimme (kaum zu hören): Hallo.
    Frau: Sorgentelefon. Wie kann ich dir helfen? Stille
    Kind: Ist da (leises Atmen) - Krankenhaus?
    Frau: Hier ist das Sorgentelefon des Cathcart-Krankenhauses. Was kann ich für dich tun?
    Kind: Ich brauche Hilfe. Ich bin…
    Frau: Ja? Stille
    Frau: Hallo? Bist du noch dran?
    Kind: Ich - ich hab’ Angst.
    Frau: Angst wovor, Liebling?
    Kind: Vor allem. Stille
    Frau: Ist da etwas oder jemand bei dir, vor dem du Angst hast?
    Kind: Nein.
    Frau: Bestimmt nicht?
    Kind: Nein.
    Frau: Bist du in irgendeiner Gefahr, Liebling? Stille
    Frau: Meine Kleine?
    Kind: Nein.
    Frau: Wirklich keine Gefahr?
    Kind: Nein.
    Frau: Könntest du mir deinen Namen sagen, meine Kleine?
    Kind: Melissa.
    Frau: Melissa, und dann?
    Kind: Melissa Anne Dickinson. (Sie fängt an zu buchstabieren)
    Frau (unterbricht sie): Wie alt bist du,
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