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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE
Autoren: Jonathan Kellerman
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leichter Silberblick. Sie war sportlich gekleidet und trug eine nagelneue, schwarze Reisetasche. Ich erinnerte mich, wo ich sie schon einmal gesehen hatte: auf der Fakultätsparty letztes Jahr. Sie durchlief ihr drittes Jahr bei uns, Dr. med. von der Ostküste.
    Ich sagte: »Dr. Wagner.«
    Wir schüttelten einander die Hände.
    Sie erzählte: »Sie haben letztes Jahr einen Vortrag über Angstzustände im Four West gehalten, als ich dort mein drittes Praxisjahr absolvierte. Ich fand ihn ausgezeichnet.«
    »Danke.«
    »Auch heute hat es mir gefallen. Ich habe eine Patientin für Sie, falls Sie interessiert sind.«
    »Ja, natürlich.«
    Sie nahm die Reisetasche in die andere Hand. »Ich habe jetzt meine eigene Praxis, draußen in Pasadena, und Belegbetten im Cathcart Memorial Hospital. Aber das Kind, von dem die Rede ist, gehört nicht zu meinen regulären Patientinnen. Sie hat selbst im Cathcart Memorial angerufen. Dort jedoch wußte man nicht, was man mit ihr anfangen sollte. Daher hat man die Kleine zu mir geschickt, weil ich mich für kindliche Verhaltensforschung interessiere. Als ich dann erfuhr, um was es ging, erinnerte ich mich an Ihren Vortrag im letzten Jahr und dachte, für so etwas wären Sie eigentlich zuständig.«
    »Ich freue mich, wenn ich helfen kann, aber meine Praxis ist am anderen Ende der Stadt.«
    »Das macht nichts. Man wird sie zu Ihnen bringen - die Leute sind vermögend. Die Patientin ist wie gesagt ein kleines Mädchen, sieben Jahre alt. Ja, ich bin eigentlich in der Hoffnung, für diesen Fall etwas dazuzulernen, zu Ihrem Vortrag gekommen. Aber nun ist mir klargeworden, daß ihre Probleme viel zu kompliziert sind, sie braucht einen Spezialisten.«
    »Angstzustände?«
    Emphatisches Nicken. »Sie ist fast wahnsinnig vor Angst. Verschiedene Phobien und auch eine ziemlich starke unbestimmte Angst machen sich wirklich in all ihren Äußerungen bemerkbar.«
    »Sie haben also einen Hausbesuch gemacht?«
    Sie lächelte. »Dachten Sie, das täte heute keiner mehr? In Yale beim Public-Health-Training hat man uns durchaus den Ausdruck ›Hausvisite‹ beigebracht. Selbstverständlich bevorzuge ich, daß meine Patienten zu mir in die Praxis kommen. Aber da fängt es mit den Problemen oft schon an, weil sie das Haus nicht verlassen. Eigentlich geht es um ihre Mutter, sie leidet unter einer Agoraphobie. Hat ihr Haus seit Jahren nicht mehr verlassen. «
    »Seit wie vielen Jahren?«
    »Sie hat nur seit Jahren gesagt, und das fiel ihr schon schwer, also wollte ich sie nicht weiter drängen.«
    »Schon richtig«, sagte ich, »was hat sie Ihnen von dem Kind erzählt?«
    »Nur daß Melissa - so heißt ihre Tochter - sich vor allem fürchtet: vor der Dunkelheit, vor lauten Geräuschen und hellem Licht, vor dem Alleinsein, vor neuen, ungewohnten Situationen. Und sie wirke oft nervös, als würde sie unter einer Spannung stehen. Zum Teil sind diese Ängste Veranlagung, zum Teil haben sie aber mit ihren außergewöhnlichen Lebensbedingungen zu tun. Sie bewohnen ein riesiges Haus, einen dieser unglaublichen Herrensitze nördlich des Cathcart Boulevard, draußen in San Labrador. Es ist ein Grundbesitz von etlichen Morgen Umfang und ein Haus mit riesigen Zimmern, pflichtgetreuen Bediensteten. Das ganze macht einen sehr gediegenen und diskreten Eindruck. Die Mutter lebt oben in ihren Gemächern wie eine viktorianische Dame und leidet unter ihrer Schwermut.«
    Sie hielt ein und tippte sich mit einer Fingerspitze auf den Mund. »Wie eine viktorianische Prinzessin, genauer gesagt, sie ist bildschön, wenn man von ihrer einen Gesichtshälfte absieht, die von lauter feinen Narben überzogen ist und bisweilen beim Sprechen ein bißchen herunterhängt. Wäre sie nicht so schön, würde man es vielleicht gar nicht bemerken. Ich wette, sie hat sich aufgrund schwerer Verletzungen, höchstwahrscheinlich eine Verbrennung oder irgendeine tiefe Fleischwunde, vor Jahren einer Oberflächenchirurgie unterzogen. Vielleicht ist das der eigentliche Grund ihrer Probleme - ich weiß es nicht.«
    »Und das kleine Mädchen?«
    »Ich hab’ nicht viel von ihr gesehen, nur so einen Schatten, der vorbeihuschte, als ich das Haus betrat. Klein, mager, niedlich und sehr gut angezogen, ein typisch kleines, reiches Mädchen.
    Als ich mit ihr reden wollte, rannte sie weg. Ich hab’ den Verdacht, daß sie sich irgendwo in den Zimmern ihrer Mutter versteckt hat. Während ich mit der Mutter sprach, hörte ich es dauernd im Hintergrund leise rascheln,
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