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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE
Autoren: Jonathan Kellerman
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sagte ja, meinte aber, Sie würden hauptsächlich für Anwälte und Richter arbeiten.«
    »Im Prinzip stimmt das auch…«
    »Ah, ja, ich glaube dann…«
    »… aber für meine früheren Patienten bin ich immer noch da. Und ich freue mich, daß Sie angerufen haben. Wie geht es Ihnen, Melissa?«
    »Mir geht es gut«, sagte sie schnell, kurzes Auflachen, »aber Sie werden sich natürlich fragen, wieso ich Sie nach all den Jahren anrufe, stimmt’s? Und die Antwort ist: nicht meinetwegen, Dr. Delaware, sondern wegen meiner Mutter.«
    »Ah, ja.«
    »Nicht, daß es irgendwas Schlimmes ist, - ach, verflixt, einen Moment bitte.« Wieder die Hand auf der Sprechmuschel. Gedämpfte Sprechgeräusche. »Es tut mir wirklich leid, Dr. Delaware, es ist jetzt einfach nicht der richtige Augenblick, könnte ich vielleicht zu Ihnen kommen und… mit Ihnen sprechen?«
    »Natürlich, wann würde es Ihnen passen?«
    »Je eher, desto besser. Ich habe ziemlich viel Zeit, ich habe gerade die Schule abgeschlossen.«
    »Gratuliere!«
    »Danke. Es ist ein schönes Gefühl, es hinter sich zu haben.«
    »Das glaube ich.« Ich warf einen Blick in meinen Terminkalender. »Wie wäre es mit morgen mittag - um zwölf?«
    »Zwölf Uhr wäre toll. Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, Dr. Delaware.«
    Ich beschrieb ihr, wo ich wohnte. Sie dankte mir noch einmal und legte auf, bevor ich mich von ihr verabschieden konnte. Ich hatte also kaum etwas aus ihr herausbekommen. Normalerweise sammelte ich schon bei einem solchen Anruf erste Informationen. Eine intelligente junge Dame. Sie besaß eine klare Ausdrucksweise, war aber offensichtlich sehr nervös. Verheimlichte sie etwas? Ich erinnerte mich an das kleine Mädchen, das sie gewesen war, und fand nichts von alledem überraschend.
    »Wegen Mutter.« Das konnte vieles bedeuten. Am wahrscheinlichsten war, sie hatte sich endlich mit der Krankheit ihrer Mutter auseinandergesetzt und war sich darüber klargeworden, welche Auswirkungen diese auf sie, Melissa selbst, hatte. Sie wollte mit ihren Gefühlen ins reine kommen, oder vielleicht wollte sie ihre Mutter in eine Therapie schicken. Der morgige Besuch würde also wahrscheinlich eine einmalige Angelegenheit sein, weiter nichts. Und dann wieder neun Jahre nichts. Ich legte ihre Karte weg und war mit meinen prophetischen Gaben zufrieden. Ich hätte ebensogut einen Spielautomaten in Las Vegas füttern oder Aktien eines Schwindelunternehmens kaufen können.
    Ich verbrachte die folgenden Stunden mit einem Artikel für eine psychologische Fachzeitschrift. Im vergangenen Herbst waren Kinder in der Schule von einem Scharfschützen in Angst und Schrecken versetzt worden. Mein Ziel war, die Erfahrung dieser Kinder in Form einer wissenschaftlichen Untersuchung wiederzugeben.
    Ich starrte meinen Entwurf an - zweiundfünfzig Seiten trotziger und hölzerner Prosa - ich wußte, es würde mir niemals gelingen, so etwas wie Menschlichkeit in diesen Morast aus Fachjargon, Querverweisen und Fußnoten zu bringen. Ich fragte mich, wie ich so etwas hatte schreiben können.
    Um halb zwölf legte ich meinen Stift hin und lehnte mich zurück, immer noch unfähig, den richtigen Ton zu treffen. Mein Blick fiel auf Melissas Krankenblatt. Ich öffnete die Akte und begann zu lesen: »18. Oktober 1978.« Herbst 78. Ich erinnerte mich, daß es zu dieser Jahreszeit heiß und ekelhaft war. Überall verdreckte Straßen und in der Luft der Geruch nach Fäulnis machten das Leben in Hollywood unerträglich. Ich hatte gerade meinen Vortrag in der Kinderklinik, dem Western Pediatric Hospital, gehalten und eilte in die Westside der Stadt, um den Terminen für den Rest meines Tages nachzukommen.
    Ich war überzeugt, mein Vortrag über die Behandlung von Angstzustanden bei Kindern war gut angekommen. Fakten, Zahlen und Dias - damals fand ich das alles sehr eindrucksvoll. Ein Auditorium voller Kinderärzte, die meisten mit privater Praxis. Ein wißbegieriger Haufen, hungrig auf funktionierende Methoden und mit wenig Geduld für akademisches Geschwafel. Danach stand ich dann noch eine Viertelstunde lang Rede und Antwort und war gerade auf dem Weg hinaus aus dem Vortragssaal, als eine junge Frau mich anhielt. Ich erkannte in ihr eine der Fragestellerinnen aus der Diskussion, meinte sie aber auch anderswo schon einmal gesehen zu haben.
    »Dr. Delaware? Eileen Wagner.«
    Sie hatte ein angenehmes, volles Gesicht unter kurzgeschnittenem, kastanienbraunem Haar, feine Gesichtszüge, eine frauliche Figur,
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