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Mozarts letzte Arie

Mozarts letzte Arie

Titel: Mozarts letzte Arie
Autoren: Matt Beynon Rees
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Prolog

    Wenn sie sang, schien es fast unvorstellbar, dass der Tod so nahe war.
    Ihre Zofe ließ mich zu meiner üblichen Besuchszeit am Nachmittag ein. Eine Sopranstimme von bemerkenswerter Klarheit erklang im vorderen Teil der Wohnung.
    «Hat sie Besuch, Franziska?», fragte ich.
    Die Zofe schüttelte den Kopf. «Sie ist allein, mein Herr.»
    Ich durchquerte das Wohnzimmer. Sie sang Zerlinas Arie aus
Don Giovanni,
in der die Bäuerin der Begierde, die in ihrer Brust schlägt, so kokett Ausdruck verleiht. Beim letzten Vers dämpfte sie ihre Stimme bei der Aufforderung an den Freier des Mädchens: «Berühr mich hier.» Ein rauer Ton schlich sich ein, als sie diese Worte in einem Crescendo wiederholte. Bebend verklang der letzte Ton.
    Als ich durch die Tür in Tante Nannerls Schlafzimmer ging, hörte ich einen trockenen Husten. Mit ihrer schmalen Hand dirigierte sie ein imaginäres Orchester durch die letzte Coda.
    Sie legte die Finger auf die Bettdecke und ließ das Kinn auf die Brust sinken. Hörte sie den Applaus eines Publikums? Vielleicht hatte die Anstrengung des Gesangs sie erschöpft.
    Die Lider ihrer blinden alten Augen zuckten. Mir ging durch den Kopf, dass das Leben, das sie geführt, und all das, was sie gesehen hatte, nun für immer vorbei war. Als Musiker verstand ich die Geheimnisse, die ein Komponist auf den Seiten seiner Partitur verbirgt und vor all denen verschließt, dienicht dazu fähig sind, die Fülle seiner Schöpfung zu erfassen. Ich war mir kaum bewusst, dass ich als Neffe weit weniger einfühlsam gewesen war.
    In ihrem Haus in der Nähe des Salzburger Doms hatte ich sie so oft besucht, dass ich versucht gewesen war zu glauben, alles zu wissen, was von ihr in Erfahrung zu bringen war. Ihr Ruhm als Wunderkind am Klavier, ihre gemeinsamen Konzerte als Heranwachsende mit meinem Vater in den großen Städten Europas. Heirat mit einem Provinzbeamten und Erhebung in den niederen Adelsstand, sodass sie seit 1784 den Titel einer Reichsbaronin führte. Nach dem Tod ihres Gatten dann die Rückkehr nach Salzburg, wo sie Klavierunterricht gab, bis ihr Augenlicht erlosch.
    Diese Anmaßung, ihr achtundsiebzigjähriges Leben derart zusammenzufassen, war in der Tat die gedankenlose Verabschiedung einer entkräfteten, alten Frau durch einen jungen Mann. Ich sage das mit Gewissheit, weil sie mir heute ein Leben enthüllte, das noch weitaus fantastischer war, als ihre berühmte Geschichte vermuten lässt.
    Nachdem sie gesungen hatte, lag meine Tante ruhig und still in ihrem schmalen Bett. Sie trug ein Seidennachthemd und um die Schultern einen schlichten Schal. Ich küsste ihr die trockene Wange, zog einen Stuhl heran und erzählte ihr den Stadtklatsch. Sie nahm meine Anwesenheit gar nicht wahr.
    Als ich schwieg, streckte sie mit einer schnellen, mich überraschenden Bewegung den Arm aus und drückte mir fest die Hand. Ihre Finger verfügten noch über die lebenslange Kraft, mit der sie täglich drei Stunden und mehr am Klavier gesessen und sich die Virtuosität erarbeitet hatte, die einst Könige, Prinzen und Grafen ergötzte. «Spiel für mich», sagte sie.
    Ihr Pianoforte war ein schönes, altes Instrument von Stein aus Augsburg. Ich spielte die Sonate in A von meinem Vater für sie und hoffte, dass der Tanzrhythmus des türkischenRondos sie in ihrer Hinfälligkeit aufmuntern möge. Während ich spielte, befingerte sie ein goldenes Kreuz mit Bernsteinintarsien, das sie um den Hals trug. Ihre leeren, blicklosen Augen waren weit geöffnet. Als ich fertig war, krächzte sie meinen Namen: «Wolfgang.»
    «Ja, liebste Tante», erwiderte ich.
    Sie wandte sich mir zu, als hätte sie mit der Antwort eines anderen gerechnet.
    Als ich ihr zum ersten Mal vorgespielt hatte, sagte sie, dass ich sie an meinen Vater erinnerte. In Wirklichkeit sind meine Haare und meine Augen so dunkel wie die meiner Mutter, und meine Fähigkeiten am Klavier sind von einer Art, die mein Vater zweifellos als mechanisch bezeichnet hätte. Ich habe nichts von seinem Genie geerbt. Aber ich
heiße
Wolfgang, und vielleicht war die Namensgleichheit für meine Tante ausreichend. Bis zu diesem Moment. Ich spürte, dass sie direkt den Mann ansprach, der seit achtunddreißig Jahren tot und ihr Bruder gewesen war – den in ganz Europa und sogar in Amerika als unvergleichlichen Komponisten berühmten Mann.
    Wolfgang Amadeus Mozart.
    «Auf dem Regal. In einem Kasten mit Perlmuttintarsien.» Ihre Hand hob sich von der Steppdecke mit einer so
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