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Mozarts letzte Arie

Mozarts letzte Arie

Titel: Mozarts letzte Arie
Autoren: Matt Beynon Rees
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unerwarteten Anmut, dass ich mich fragte, ob meine Tante bereits tot sei und ich ihren Geist anstarrte, der sich, befreit von ihren gebrechlichen Knochen und ihrer eingefallenen Haut, erhob. Ich öffnete den Kasten und fand unter einigen alten bunten Bändern ein in schartiges braunes Leder gebundenes Buch. Ich drückte es ihr in die Hand.
    «Ich werde bald tot sein», murmelte sie.
    «Das möge Gott verhüten, liebste Tante. Sprich nicht von derlei Dingen.»
    Sie schlug das Buch auf und strich mit den Fingern überdie trockenen vergilbten Seiten. Diese waren von mit einem Federkiel, wie ihn schon seit Jahren nur noch wenige benutzen, geschriebenen Zeilen gefüllt, die von links nach rechts leicht aufwärts geneigt waren. Ich erkannte ihre eigene Handschrift, hatte sie mir doch oft geschrieben, während ich durch die Konzertsäle Polens und Preußens gezogen war. Sie blätterte ein paar Seiten um und spreizte ihre knochigen Finger über dem Text. In der ersten Zeile las ich einen Ort und ein Datum:
Wien, 21. Dezember 1791.
    Mit einem Schlag, der wie ein Kanonenschuss durch die Stille ihrer Wohnung hallte, knallte sie das Buch zu. Während ich noch erschrocken blinzelte, wurde mir der ledergebundene Band zugeworfen und landete in meinen danach tastenden Händen.
    «Zeig es aber nicht deiner Mutter», sagte sie.
    «Warum nicht?» Ich lächelte. «Was hast du für Geheimnisse, Tante Nannerl?»
    Sie hob ihre matten Augenbrauen, und ich hatte das Gefühl, dass in diesen melancholischen, milchig-braunen Augen plötzlich der Anflug eines Blicks einer viel jüngeren Frau lag.
    «Nach meinem Tod werde ich alles, was ich habe, meinem Sohn Leopold hinterlassen», sagte sie. «Er erbt mein Geld, meine wenigen wertvollen Schmuckstücke. Auch meine Papiere, meine Tagebücher, meine Haushaltsbücher. Zumeist öde Chroniken der stumpfen Routine Salzburgs und des Dorfs, in dem ich meine Ehejahre verbracht habe.» Sie rang nach Atem. Ihr Kopf sank in die Kissen zurück.
    Ich hob das Buch in meiner Hand. «Aber dies …?»
    «Etwas anderes. Nur für dich.»
    «Geht es um meinen Vater?»
    Ich konnte meine Erregung kaum verbergen, weil ich erst wenige Monate alt gewesen war, als mein Vater von uns gegangen war. Er hat stets mit mir am Klavier gesessen, wennauch nur so, wie man von den mythischen Göttern des Olymps sagen konnte, sie seien bei den Griechen gewesen, wenn diese Weizen zu Mehl gemahlen haben.
    Meine Tante schluckte heftig und hustete. Ich dachte, dass ich mich vielleicht geirrt hätte. Fragte ich sie nämlich nach den letzten Jahren meines Vaters in Wien, hatte sie stets behauptet, ihm seit 1788 nicht mehr begegnet zu sein, nachdem das Testament meines Großvaters zu ihren Gunsten vollstreckt worden und es zwischen den Geschwistern zu einer Abkühlung gekommen war. Sie war mit ihrem Mann im Dorf St. Gilgen geblieben. Mein Vater hatte seine Karriere in den Opernhäusern und adeligen Salons von Wien fortgesetzt, bis er drei Sommer später in seinem sechsunddreißigsten Jahr dahingerafft wurde.
    Sie schürzte die Lippen, sie sammelte sich. «Das Buch berichtet die Wahrheit über Ereignisse, die dein Leben beeinflusst haben – und die gesamte Musikgeschichte.»
    «Geht es um
ihn?»,
fragte ich und strich erregt über die schartige Oberfläche des Ledereinbands.
    «Um seinen Tod.»
    «Das Fieber? Ja, Tantchen, ich weiß.»
    Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar, das die Zofe auf altmodische Weise hochgesteckt hatte, obwohl sie im Bett lag, raschelte auf dem Kissen, als wollte es mich unterbrechen und zum Schweigen bringen.
    «Seine Ermordung», sagte sie.
    Ich hörte ein Geräusch, das wie der letzte Seufzer einer sterbenden Seele klang. Ich wusste nicht, ob er meiner Tante oder mir selbst entfuhr oder ob es vielleicht der gramvolle Geist meines armen Vaters war. Ich wollte sprechen, doch mir stockte der Atem, meine Rippen schienen meine Lunge zusammenzupressen, und die Krawatte um meinen Stehkragen würgte mich plötzlich.
    Tante Nannerl entließ mich mit einem Zucken ihres Handgelenks und sank in die Kissen zurück.
    Ich eilte zu meinem Zimmer im Haus meiner lieben Mutter in der Nonnberggasse, rannte beinah die steilen Stufen unterhalb der Klippen aufwärts. Der Ledereinband des Tagebuchs meiner Tante verdunkelte sich vom Schweiß meiner Handfläche, obwohl der Tag so kalt war, dass bereits der erste Schnee drohte.
    Zu Hause wischte ich an meiner Kniehose die Schweißflecken vom Einband, schloss die Augen, flüsterte ein
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