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Mozarts letzte Arie

Mozarts letzte Arie

Titel: Mozarts letzte Arie
Autoren: Matt Beynon Rees
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Hofmeisters von König George hörte, als er uns im Buckingham-Palast ankündigte.
    Lenerl stellte die heiße Schokolade auf den Tisch und knickste. «Wünschen Sie sonst noch etwas, Madame?»
    Ich hob das Kinn, um sie zu entlassen.
    Es war abwegig, an die längst vergangenen Reisen durch Europas Hauptstädte zu denken. Wenn ich den Namen schon nicht mehr trug, musste ich doch auch einräumen, dass ichselbst damals lediglich
eine
Mozart gewesen war. Nur
er
war stets «Mozart» gewesen. Hätte man einen Brief in Mailand oder Berlin mit diesem einzigen Wort adressiert, hätte er meinen Bruder in Wien erreicht. Ich hatte die Taschenuhren und goldenen Schnupftabakdosen geerbt, Geschenke entzückter Aristokraten aus der Zeit unseres gemeinsamen Ruhms als reisende musikalische Wunderkinder. Doch
den Namen
hatte mein Bruder behalten.
    Für die Bewohner dieses Dorfs war ich keine Mozart. Nur wenige waren je über Salzburg hinausgekommen, eine sechsstündige Reise durch die Berge entfernt. Was wussten sie schon von den Schlössern in Nymphenburg und Schönbrunn, in denen ich meine Virtuosität am Klavier dargeboten hatte, durch die Gärten flaniert war, mit Königen geplaudert und Kleider getragen hatte, die für Kinder von Kaisern gemacht worden waren? Das Leben der Dörfler reichte nicht über die Kirche hinaus, nicht über das Badehaus, in dem der Arzt ihnen die Zähne zog, und nicht über die Marktbude am See, wo der Küster Rosenkränze und Opferkerzen feilbot.
    Selbst Nannerl nannte mich niemand mehr, seit Mama und Papa nicht mehr da waren. Niemand außer ihm, der seit drei Jahren geschwiegen hatte. Obwohl es in unseren letzten Briefen unausgesprochen geblieben war, fürchtete ich, dass die Lieblosigkeit von unseres Vaters Testament, das mir sämtliche Früchte unseres frühen Ruhms zuerkannte, das Band zu meinem Bruder, meinem lieben Hans Pudding, meinem Franz von Nasenblut, zerrissen hatte.
    Diese Jahre ohne jeden Kontakt waren, so vermutete ich jedenfalls, für mich schwerer zu ertragen als für ihn. Sollte er je daran gedacht haben, sich die Mühe zu machen, seiner Schwester in ihrem schlichten ehelichen Heim zu schreiben, so gab es doch stets für ihn die Ablenkung eines Salons, indem aufzutreten, eines Balls, an dem teilzunehmen, eines Konzerts, das zu schreiben wäre.
    In den Genuss solcher Abwechslungen kam ich nie. Gleichwohl freute ich mich über die Rezensionen seiner Opern in den Salzburger Blättern, abonnierte sämtliche Klavierauszüge seiner Werke und spielte sie voller Bewunderung für seine kompositorische Entwicklung. Selbst mein armer zurückhaltender Gatte konnte die Tränen nicht unterdrücken, als ich aus Wolfgangs
Così fan tutte
«Erbarmen, Geliebte, verzeih den Irrtum einer liebenden Seele» sang. Während dieser Jahre des Schweigens tröstete ich mich damit, dass er eines Tages unser Dorf besuchen und wir noch einmal gemeinsam spielen würden.
    Ich sang diese Arie, während ich einen Finger unter das Siegel schob und den Brief öffnete. Er war von meiner Schwägerin Constanze.
    Mein Gesang stockte auf einem hohen G und verwandelte sich in ein Schluchzen.
    Ihr geliebter Bruder ist in der Nacht des 5. Dezembers verstorben,
schrieb sie.
Der größte Komponist und hingebungsvollste Gatte ruht in einem einfachen Grab auf dem Sankt Marxer Friedhof. Es ist mein innigster, verzweifelter Wunsch, dort neben ihm zu liegen.
    Constanze übermittelte die schrecklichen Einzelheiten. Wolfgang sei einem
akuten hitzigen Frieselfieber
erlegen, was, wie sie erklärte, bedeutete, dass er von einem Ausschlag gequält worden sei, der kleinen weißen Hirsekörnern geglichen habe.
    Mein Kinn zitterte, während ich ihre Beschreibung seiner letzten Tage las, das Anschwellen seines Körpers, Erbrechen und Schüttelfrost, das letzte Koma vor seinem Tod eine Stunde nach Mitternacht. Seit einer Woche war er tot.
    Ich bekreuzigte mich und murmelte ein Gebet, dass er in die Gegenwart Christi eingehen möge. Ich presste den Brief an meine Brust und weinte. «Wolfgang», flüsterte ich.
    Am Klavier stolperte mein Sohn durch ein französisches Wiegenlied,
Ah, vous dirai-je, Maman.
Ich hatte es ihm eines Morgens beigebracht, nachdem ich Wolfgangs herrliche Variationen des Themas gespielt hatte. Die schlichte Melodie stach auf mich ein. Mit einem scharfen Schmerz im Unterleib beugte ich mich vornüber.
    Das Klavier verstummte. Leopolds kleine Füße trippelten durch die Diele. In seiner grünen, bis zum pummeligen Kinn
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