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Mozarts letzte Arie

Mozarts letzte Arie

Titel: Mozarts letzte Arie
Autoren: Matt Beynon Rees
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Er senkte den Blick zu Boden und zupfte mit den Fingern an seinem Pelzkragen herum.
    An der Tür hielt ich, die Klinke schon in der Hand, inne, weil mich sein Gefühlsausbruch bewegte. Erinnerte ihn jeder Tod an seine eigenen Verluste, an seine verstorbenen Frauen und kleinen Kinder? Es war kalt im Zimmer, und ich sah, dass der Kamin nicht brannte, weil Berchtold Heizkosten sparen wollte, obwohl er bereits hinreichende Sicherheiten angehäufthatte, um seinen Kindern ein komfortables Leben zu ermöglichen. «Johann», sagte ich.
    «Ich rechne mit Ihrer baldigen Rückkehr, Madame.» Er brachte die Papiere auf dem Schreibtisch durcheinander und straffte sich. «Ihre Abreise kommt mir ungelegen und lässt meine Kinder ohne Aufsicht.»
    «Ich werde so schnell wie möglich zu Ihnen zurückkehren.»
    «Und wenn dem so ist, wollen wir nichts mehr von Ihrem Bruder oder fantastischen Verschwörungen gegen sein Leben hören.»
    Für Berchtold waren alle Berufsmusiker gleich, unehrenhaft und verantwortungslos. Zweifellos ging er davon aus, dass Wolfgang lasterhaft und einsam in einer Kellerkneipe gestorben war. Wenn mein Bruder vergiftet worden war, wäre das gewiss geschehen, um irgendeine Missetat zu rächen. All das, was ich niemals toleriert hätte, war mein Mann zu unterstellen bereit.
    «Sie werden von diesen Dingen nichts mehr hören.» Ich schloss die Tür.
    In der Diele rief ich nach Lenerl, wies sie an, meine Koffer zu packen und die Kutsche meines Mannes kommen zu lassen.
    Als meine Mutter starb, bekam ich einen so heftigen Weinkrampf, dass ich mich übergeben musste und tagelang im Bett blieb. Der Tod meines Vaters ließ mich in eine merkwürdige Finsternis sinken, aus der ich erst nach Monaten wieder auftauchte. Aber jetzt war ich selbst Mutter, und zwar eine Mutter, die den Verlust eines ihrer Kinder erlebt und zum Wohl der Kinder, die ihr geblieben waren, ihr Leben weitergeführt hatte. Auf übermächtige Gefühlslagen reagierte ich nicht mehr so empfindlich. Wenn ich dem Tod ins Auge blickte, war ich in der Lage zu entscheiden, auf welche Wange ich ihn schlagen wollte. Und so beschloss ich, nach Wien zu reisen.
    Im Salon setzte ich mich ans Klavier, ein Hochzeitsgeschenk meines Vaters, und wärmte meine Finger unter den Achseln. Ich starrte gegen die schlichte Wandtapete, feine grüne senkrechte Streifen auf weißem Grund. Dahinter zitterte mein Mann in der Kälte und blickte finster auf die Dokumente auf seinem Schreibtisch. Du sollst
dies hier
von ihm hören, dachte ich. Ich spielte die Sonate in a-Moll, die Wolfgang nach dem Tod unserer lieben Mutter in Paris komponiert hatte.
    Das dunkle und verstörende Eingangsthema klang sogar auf meiner ramponierten Tastatur richtig. Das Dis der rechten Hand kontrastierte mit dem unerbittlichen, um einen a-Moll-Akkord aufgebauten
Basso ostinato
der linken Hand. Das frenetische
Allegro maestoso
hämmerte ich heraus, als wollte ich es Wolfgangs Seele hören lassen, wo auch immer sie sein mochte.
    «Ich komme, Wolfgang», flüsterte ich.

2
Wien

    Die Göttin der Vorsehung sah zu, als ich nach dem Frühstück meinen Gasthof verließ und im kalten Wind den menschenleeren Mehlmarkt überquerte. In den Bronzehänden der Göttin runzelte der doppelgesichtige Januskopf als bärtiger alter Mann die Stirn über die Vergangenheit, während er mit jugendlicher Offenheit in die Gegenrichtung seiner Zukunft blickte. Auch ich hätte gern gewusst, was mir bevorstand, und zitterte. Sogar die mythische Verkörperung der Vorsehung konnte sich verlassen auf einem eingefrorenen Brunnen mitten auf einem windigen Platz wiederfinden. Ich betete darum, nicht so einsam bleiben zu müssen.
    Hinter der Statue erhob sich mit verschlossenen Fensterläden das graue Gebäude der Mehlgrube, in dem Wolfgang oft Konzerte gegeben hatte, und die Terrakottafassade der Kapuzinerkirche mit der Gruft der Habsburger. Ich stapfte in meinen hohen Stiefeln durch den Schmutz und Schneematsch und folgte der Richtung, in die der junge Janus blickte.
    Der Wirt des Gasthofs hatte mir den Weg zu einer schmalen Straße mit fünfstöckigen Häusern gewiesen; die Erdgeschosse bestanden aus schweren, breiten Granitsteinen, und die Giebel waren mit orangefarbenem, gelbem und weißem Stuck verziert. Trotz des trüben Lichts, das durch die Wolken schimmerte, wirkten die Gebäude hell. Als ich zu meiner Linken den Fuß eines Kirchturms erreichte, bog ich in die Rauhensteingasse ein und suchte nach dem Haus meines Bruders.
    Ein
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