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SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE
Autoren: Jonathan Kellerman
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Ihnen.«
    »Gut«, ich lächelte, »und ich hab’ auch keine Angst vor dir.«
    Sie warf mir einen Blick zu, der zum Teil Überraschung, hauptsächlich aber Spott ausdrückte.
    »Ich gebe keine Spritzen«, erklärte ich, »ich arbeite mit den Kindern, die zu mir kommen, als Team. Sie erzählen mir von sich, damit ich ihnen zeigen kann, wie sie es machen müssen, um keine Angst mehr zu haben. Es ist nämlich so: Angst zu haben ist etwas, das wir erlernen. Also können wir es auch wieder verlernen.«
    Ein Funke von Interesse zeigte sich in ihren Augen, ihre Beine lockerten sich, aber ihre Handbewegungen wurden immer nervöser.
    Sie fragte: »Wie viele Kinder kommen hierher?«
    »Viele.«
    »Wie viele?«
    »Zwischen vier und acht pro Tag.«
    »Wie heißen sie?«
    »Das kann ich dir nicht sagen, Melissa.«
    »Warum nicht?«
    »Es ist ein Geheimnis, genau wie ich ohne deine Erlaubnis auch niemandem erzählen kann, daß du heute hergekommen bist.«
    »Warum?«
    »Weil die Kinder, die hierherkommen, über private Dinge reden, und sie wollen, daß sie privat bleiben. Weißt du, was das bedeutet?«
    »Privat«, erklärte sie, »das ist, wenn man wie eine junge Dame ganz allein zur Toilette geht und die Tür hinter sich zumacht.«
    »Genau, wenn die Kinder von sich reden, erzählen sie manchmal Dinge, die sie noch nie jemandem erzählt haben. Zu meiner Arbeit gehört auch, daß ich weiß, wie man ein Geheimnis für sich behält. Also bleibt alles, was in diesem Zimmer vor sich geht, geheim. Sogar die Namen der Leute, die herkommen, bleiben geheim. Aus diesem Grund gibt es dort noch eine zweite Tür.« Ich zeigte mit dem Finger darauf. »Durch die kommt man direkt in den Hausflur. Also können die Leute das Behandlungszimmer verlassen, ohne durch das Wartezimmer gehen zu müssen und anderen Leuten zu begegnen. Möchtest du mal nachsehen?«
    »Nein, danke«, entgegnete Melissa mit zunehmender Anspannung.
    Ich fragte nach: »Macht dir jetzt im Augenblick etwas Kummer, Melissa?«
    »Nein.«
    »Möchtest du darüber reden, wovor du Angst hast?«
    Schweigen.
    »Melissa?«
    »Vor allem.«
    »Du hast vor allem Angst?«
    Sie neigte verschämt den Kopf.
    »Laß uns doch mit einer Sache anfangen.«
    »Vor Einbrechern und Eindringlingen.« Sie sagte es her, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.
    Ich fragte weiter: »Hat dir jemand gesagt, was für eine Art Fragen ich dir heute stellen würde?«
    Sie schwieg erneut. »War es Jacob?« Sie nickte.
    »Und deine Mutter?«
    »Nein, nur Jacob.«
    »Hat Jacob dir auch gesagt, was du auf meine Fragen antworten sollst?«
    Wieder ein Zögern.
    Ich sagte: »Wenn er das gesagt hat, macht es nichts. Er versucht dir zu helfen. Ich möchte nur, daß du mir sagst, was du fühlst. Du bist der Star dieser Veranstaltung, Melissa.«
    Sie sagte: »Er hat mir gesagt, ich soll gerade sitzen, deutlich sprechen und die Wahrheit sagen.«
    »Die Wahrheit über das, was dir Angst gemacht hat?«
    »Ja, denn vielleicht könnten Sie mir dann helfen.«
    Betonung auf ›vielleicht‹. Ich konnte beinahe Dutchys Stimme hören.
    Ich sagte: »Das ist richtig. Jacob ist natürlich ein sehr kluger Mann, und er kümmert sich sehr um dich. Aber wenn du hierher kommst, bist du der Boß. Du kannst reden, worüber du willst.«
    »Ich möchte über Einbrecher und Eindringlinge reden.«
    »Okay, dann werden wir das tun.« Ich wartete. Sie sagte nichts.
    Ich sagte: »Wie sehen diese Einbrecher und Eindringlinge denn aus?«
    »Es sind keine richtigen Einbrecher«, sagte sie geradezu abschätzend, »denn sie leben in meiner Phantasie.«
    »Wie sehen sie in deiner Phantasie aus?«
    Wieder ein Schweigen. Sie schloß die Augen. Ihre Hände bewegten sich wie wild, ihr ganzer Körper vibrierte ein wenig, und ihr Gesicht verzerrte sich. Sie schien jeden Augenblick in Tränen auszubrechen.
    Ich beugte mich zu ihr vor und versuchte, sie zu beruhigen: »Melissa, wir brauchen jetzt nicht darüber zu sprechen.«
    »Groß«, stieß sie ohne jede Träne noch immer mit geschlossenen Augen hervor. Es war ihre starke Konzentration, die die starke Anspannung in ihrem Gesicht bewirkte. Ihre Augen bewegten sich wie rasend unter den Lidern.« Sie wurde von Bildern gejagt.
    Sie fuhr fort: »Er ist groß - mit diesem großen Hut…«, ihre Augen erstarrten, und sie beschrieb mit ihren Händen große Kreise, »- und ein langer Mantel und…«
    »Und was noch?«
    Ihre Hände beruhigten sich, hielt sie aber erhoben. Den Mund geöffnet hielt sie wie
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