Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
SÄURE

SÄURE

Titel: SÄURE
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
bestätigte ihr: »Das ist gut, richtig wütend auf ihn zu sein. Wenn du wütend auf ihn bist, hast du keine Angst vor ihm.«
    Sie ließ ihre zur Faust geballten Hände fallen und sah seufzend zu Boden. Ihre Handbewegungen fingen von neuem an.
    Ich ging zu ihr und kniete mich hin, so daß unsere Augen auf gleicher Höhe waren, für den Fall, daß sie sich entschloß aufzublicken. »Du bist ein sehr kluges Mädchen, Melissa, und du hast mir sehr geholfen, indem du mutig über die schrecklichen Sachen geredet hast. Ich weiß, wie sehr du möchtest, daß du keine Angst mehr hast. Ich habe vielen anderen Kindern geholfen, und ich werde dir auch helfen.«
    Schweigen.
    »Wenn du noch etwas über Mikoksi oder Einbrecher oder irgendetwas anderes sagen willst, ist das in Ordnung. Aber wenn du nicht willst, bin ich auch einverstanden. Wir haben noch etwas Zeit, bis Jacob wiederkommt. Du kannst selbst bestimmen, was wir tun wollen.«
    Sie blieb regungslos. Der lange Uhrzeiger der Banjo-Uhr an der Wand gegenüber hatte einen Halbkreis vollendet. Endlich hob Melissa den Kopf und sah sich um. Plötzlich fixierte sie mich, wobei sie ihre Augen stark zusammenkniff. »Ich werde malen«, sagte sie, »aber nur mit Stiften, nicht mit Kreide, die schmiert so.«
    Sie malte langsam, mit der Zungenspitze im Mundwinkel. Ihre künstlerischen Fähigkeiten waren überdurchschnittlich, aber das fertige Produkt besagte nur, daß es ihr für diesen Tag reichte. Ihre Zeichnung zeigte ein Mädchen mit glücklichem Gesicht und eine Katze, die ebenfalls ein glückliches Gesicht hatte, vor einem roten Haus und einem Baum mit dicken Ästen voller Äpfel. Über dem Haus hatte sie eine riesige goldene Sonne mit Strahlen gemalt, die wie Greifarme aussahen.
    Als sie es fertig hatte, schob sie mir das Bild über den Schreibtisch zu und sagte: »Behalten Sie es!«
    »Danke, es ist wunderschön.«
    »Wann soll ich wiederkommen?«
    »Wie wär’s mit übermorgen? Freitag?«
    »Warum nicht morgen?«
    »Manchmal denken die Kinder lieber erst einmal etwas nach, bevor sie wiederkommen.«
    »Ich denke schnell«, sagte sie, »und alles hab’ ich ja noch gar nicht erzählt.«
    »Möchtest du wirklich schon morgen kommen?«
    »Ich möchte gesund werden.«
    »Na gut, ich habe morgen um fünf Uhr Zeit für dich, vorausgesetzt, Jacob kann dich herbringen.«
    »Das wird er«, sagte sie, »er will auch, daß ich gesund werde.«
    Ich begleitete sie zum Flur hinaus und sah Dutchy mit einer braunen Einkaufstüte auf und ab gehen. Als er uns erblickte, runzelte er die Stirn und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
    Melissa rief ihm zu: »Wir kommen morgen um fünf wieder her, Jacob.«
    Dutchy hob die Augenbrauen und bemerkte: »Ich dachte, ich wäre pünktlich, Doktor.«
    »Sind Sie auch«, sagte ich, »ich habe Melissa nur gerade den Seitenausgang gezeigt.«
    »Damit andere Kinder mich nicht sehen und mich erkennen«, erklärte sie, »es ist privat!«
    »Ah, ja«, sagte Dutchy und warf einen Blick durch den Flur, »ich habe dir etwas mitgebracht, junge Dame, damit du bis zum Abendessen nicht verhungerst.« Die Tüte war oben ziehharmonikaartig zusammengefaltet. Er öffnete sie und zog einen Vollkornkeks heraus.
    Melissa quietschte vor Vergnügen, nahm ihn und wollte gerade hineinbeißen, als Dutchy sich räusperte. Melissa hielt den Keks in der ausgestreckten Hand. »Danke, Jacob.«
    »Gern geschehen, junge Dame.«
    Sie wandte sich mir zu. »Möchten Sie auch welche, Doktor Delaware?«
    »Nein, vielen Dank, Melissa«, hörte ich mich formvollendet sagen und kam mir dabei wie ein Schüler in einer Akademie für feines Benehmen vor.
    Sie leckte sich die Lippen und fing an zu knabbern.
    Ich wandte mich Dutchy zu: »Ich würde gern einen Augenblick mit Ihnen reden, Mr. Dutchy.«
    Er jedoch sah wieder auf die Armbanduhr. »Der Verkehr auf der Schnellstraße - je länger wir warten…«
    Ich fuhr fort: »Während unserer Sitzung sind ein paar wichtige Dinge zur Sprache gekommen.«
    Er sagte: »Es ist wirklich sehr…«
    Ich zwang mich zu einem freundlichen Grinsen und betonte nachdrücklich: »Wenn ich meine Arbeit tun soll, brauche ich Ihre Hilfe, Mr. Dutchy.«
    Seinem Gesichtsausdruck nach hätte ich ebensogut bei einem Botschaftsempfang einen fahren lassen können. Schließlich räusperte er sich erneut, »einen Augenblick, Melissa«, und spazierte ein paar Meter den Korridor hinunter. Melissa, den Mund voll Kekse, sah ihm nach.
    Ich lächelte ihr zu und entschuldigte mich:
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher