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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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Gipfeln, und dann ist man wieder daheim und andere Themen drängen in den Vordergrund, und das, was beschlossen wurde, gerät in Vergessenheit. Kurz: Von der Armut im Land wollte die Regierung Kohl eigentlich gar nicht so viel wissen. Im Frühling 1999 schimpften die Fraktionen von SPD und Grünen, die mittlerweile über die Mehrheit im Parlament verfügten, über die alte Regierung, die ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen sei: »Sie hat die Existenz von Armut in der Bundesrepublik Deutschland geleugnet und demzufolge keinen Sinn in einem nationalen Armutsbericht gesehen.« Tatsächlich grummelten die Unionsleute, es gebe »in der Bundesrepublik Deutschland bereits ein ausgeprägtes System der Lebenslagenforschung« und man solle sich doch lieber »auf das fokussieren, wo politischer Handlungsbedarf« bestehe.
    Dabei hätte man auf diesem Feld schon Ende der neunziger Jahre Handlungsbedarf durchaus erkennen können – wenn man wollte. Man muss sich daran erinnern, was das für eine Zeit war. Damals traten die Worte Armut und Reichtum wieder in das Bewusstsein der Leute.
    Die Arbeitslosigkeit war seit Beginn des Jahrzehnts kontinuierlich angestiegen und hatte 1997 die bis dahin höchste Quote von 12,7 Prozent erreicht. Beinahe 4,4 Millionen Menschen waren in Deutschland arbeitslos. In diesem Jahr hatten es auch die Kirchen für notwendig gehalten, die Stimme zu einem gemeinsamen »Sozialwort« zu erheben. »Tiefe Risse gehen durch unser Land«, hieß es da, »vor allem der von der Massenarbeitslosigkeit hervorgerufene Riss, aber auch der wachsende Riss zwischen Wohlstand und Armut. ... Manche würden der regulativen Idee der Gerechtigkeit gern den Abschied geben. Sie glauben fälschlich, ein Ausgleich der Interessen stelle sich in der freien Marktwirtschaft von selbst ein.« 6
    Dieses Sozialwort der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz las sich bereits wie das sozialpolitische Regierungsprogramm einer kommenden linksliberalen Regierung. Es war ein kluges, weitsichtiges Papier. Die beiden Kirchen erhoben hier eine frühe Klage gegen die Verwerfungen der Globalisierung und forderten eine »strukturelle und moralische Erneuerung« der sozialen Marktwirtschaft.
    Es gehörte zur Begeisterung des rot-grünen Projekts, sich dieser Aufgabe annehmen zu wollen. Weil es Sache der Politik ist, die Interessen der Menschen auszugleichen, nicht Sache der Märkte. So war die Stimmung. Es herrschte ein ausgeprägter Möglichkeitssinn. Die Selbstentmachtung der Politik lag noch in weiter Ferne. Es ging um nicht weniger als eine »gerechtere Verteilung von Wohlstand und Arbeit«, wie es im Antrag der rot-grünen Fraktionen aus dem Jahr 1999 heißt, mit dem der Armuts- und Reichtumsbericht ins Leben gerufen wurde. Arbeit war das Schlüsselwort. Das entsprach dem Selbstverständnis der SPD und der Gewerkschaften, die ihre Aufgabe darin sahen, den Menschen Arbeit zu verschaffen. Es war der Modernismus der Vergangenheit, der einen Fortschritt in der Erkenntnis sah, dass Arbeitslosigkeit kein selbstverschuldetes Übel ist, sondern ein gesellschaftliches Problem. Insoweit über das System gestritten wurde, galt das nur der Sorge um die Arbeit, es galt nicht der Sorge um das Wesen des Systems selbst. So weit war der Kapitalismus noch nicht. Die Kritik bewegte sich immer noch in den Grenzen des einstmals funktionierenden Nachkriegssystems. Erst die Finanzkrise vermochte das zu ändern.
    Die rot-grünen Abgeordneten waren so begeistert von sich selbst, dass sie sich zu einer einigermaßen kuriosen These verstiegen: »Armut und Reichtum in der Bundesrepublik Deutschland werden durch wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Prozesse verursacht, die die abgewählte Bundesregierung eingeleitet hat.« Das war nun zu viel Ehre für Helmut Kohl! Selbst auf diesen starken Schultern kann nicht die ganze Last der Verantwortung für die Verteilung von Armut und Reichtum der Deutschen abgelegt werden. Da gehört schon ein bisschen mehr dazu.
    Es war das Verdienst schon des kirchlichen Sozialworts gewesen, nicht nur auf die Armut zu verweisen, sondern auch auf den Reichtum: »Nicht nur Armut, auch Reichtum muß ein Thema der politischen Debatte sein. Umverteilung ist gegenwärtig häufig Umverteilung des Mangels, weil der Überfluß auf der anderen Seite geschont wird. Ohnehin tendiert die wirtschaftliche Entwicklung dazu, den Anteil der Kapitaleinkommen gegenüber dem Anteil der Lohneinkommen zu vergrößern.
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