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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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Natur ging es Hiob auch gar nicht. Gott entzieht sich der Frage nach Gerechtigkeit und antwortet, wie Bloch schreibt, »auf moralische Fragen mit physikalischen«. Im großen kosmologischen Sinnzusammenhang, im Meer der universellen Notwendigkeiten löst sich das Wort von der Gerechtigkeit einfach auf.
    Gott redet mit Hiob so, wie ein Finanzspekulant mit einem Occupy-Aktivisten reden würde: »Wo warst du, als wir das globale Wachstum finanzierten und die Welt mit Geld versorgt haben?«
    Gott und die Finanzindustrie sagen: »There is no alternative.«
    Die an- und abschwellende Flut der globalen Kapitalströme folgt der unabänderlichen Natur des Geldes, so wie die Wasser der paradiesischen Flüsse dem Wort des Herrn folgen.
    Gott fragt Hiob: »Bist du zu den Quellen des Meeres gekommen und auf dem Grund der Tiefe gewandelt? Haben sich dir des Todes Tore je aufgetan, oder hast du gesehen die Tore der Finsternis? Hast du erkannt, wie breit die Erde ist? Sage an, weißt du das alles?« Was soll Hiob da antworten? Er weiß von den Toren der Finsternis ebenso wenig, wie wir heute von Himalaya Options, Variance Swaps oder Constant Proportion Portfolio Insurances wissen – oder wie die Instrumente sonst noch heißen, mit denen unsere Gesellschaft auf ihren verderblichen Kurs gesteuert wurde. Wenn »die Märkte« sprechen könnten, würden sie von uns verlangen zu schweigen.
    Gerechtigkeit ist ein schwieriger Begriff. Wir verstehen darunter nicht alle das Gleiche. Wir haben auch nicht die gleichen Bilder dafür. Der Frankfurter Gerechtigkeitsbrunnen würde nicht überall auf der Welt ohne weiteres verstanden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die große Frau mit Waage und Schwert für ein Symbol des westlichen Imperialismus gehalten würde. Und was hätte Aristoteles mit dem Wort von der »sozialen Gerechtigkeit« anfangen sollen, das die katholische Kirche Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erfunden hat? Aber irgendeine überwölbende Idee der Gerechtigkeit ist den Menschen eingeschrieben. Doch nein, das ist falsch. Richtiger muss es lauten: Es ist den Menschen eine Idee der Ungerechtigkeit eingeschrieben. Es geht bei der Tugend der Gerechtigkeit weniger darum, einen gerechten Zustand herzustellen, als einen ungerechten abzustellen. Die Abwesenheit von Ungerechtigkeit ist schon die Gerechtigkeit.
    Wir müssen gar nicht erklären können, was die Gerechtigkeit ist. Es genügt völlig, wenn wir die Ungerechtigkeit erkennen können. Und das können wir. Die meisten Leute dürften erhebliche Schwierigkeiten haben zu bestimmen, was gerecht ist. Aber sie wissen ziemlich genau, was ungerecht ist. Das ist ein Kennzeichen der Gerechtigkeit: Wir wissen nicht, was sie ist. Aber wir wissen, wann sie verletzt wird.
    Als die Staaten mit sehr viel Geld die Banken vor dem Kollaps retteten, war das so ein Moment. Zur Erinnerung: Die Bundesregierung stellte damals Garantien in Höhe von 400 Milliarden Euro aus. Wir haben uns im Verlauf der Krise an den Umgang mit solchen Summen gewöhnt und nehmen sie nicht mehr ernst. Diese Summe aber war mehr als ein Viertel der öffentlichen Gesamtausgaben von 2011.
    Die Phrase »Too big to fail« fand Eingang in die Umgangssprache. Und eine ganze Generation lernte mit Staunen, dass Recht und Gerechtigkeit und Moral und Regeln nicht für alle gelten. Denn Not kennt kein Gebot – außer eben das höchste. Der Soziologe Heinz Bude schrieb damals: »Das Empfinden von Ungerechtigkeit ist eines der stärksten kollektiven Gefühle, das man nicht ohne Folgen entfacht.« 4 Darüber wird man nachdenken müssen: Wie leicht wird das Feuer dieses Gefühls entfacht, und welche Folgen hat das dann?
    Im Frühjahr 2013 wurde der »Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung« 5 veröffentlicht. Das war ein Anlass, solch ein Feuer zu entfachen. Es hat sich für diese Papiere das Wort vom Armutsbericht durchgesetzt. Das macht auch Sinn. Weil es ja darum geht, die Armut zu bekämpfen. Dennoch greift das Wort zu kurz: Denn der Armutsbericht diente von Anfang an ausdrücklich dem Zweck, auch einen Überblick über den Reichtum im Land zu gewinnen. Es geht um Verteilung. Es geht um Gerechtigkeit.
    Dass dies erst der vierte Bericht seiner Art war, zeigte, dass man sich noch gar nicht so lange mit der Armut in Deutschland befasst. Die Regierung Helmut Kohls hatte sich auf einem internationalen Gipfel im Jahr 1995 zur besseren Armutsberichterstattung verpflichtet. Aber man beschließt so viel auf solchen
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