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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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Sozialministerium vorgelegt. Vor seiner offiziellen Veröffentlichung des Berichts haben die anderen betroffenen Ministerien Gelegenheit, sich zu äußern. Philipp Rösler, Wirtschaftsminister und FDP-Chef, machte davon Gebrauch. Der Entwurf sei »nicht ressortabgestimmt« und entspreche »nicht der Meinung der Bundesregierung«, ließ Rösler in einem internen Vermerk festhalten – das »Handelsblatt« sorgte dann dafür, dass der Vermerk nicht intern blieb.
    Vor allem störten sich Röslers Leute daran, dass im Entwurf des Armutsberichts ein für eine bürgerliche Regierung geradezu revolutionärer Gedanke auftauchte: »Die Bundesregierung prüft, ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann.« Steuererhöhung für öffentliche Aufgaben? Im Wirtschaftsministerium muss man bei diesen Worten nach Luft geschnappt haben: Sie stehen in glattem Widerspruch zur seit Jahrzehnten gelernten und gelehrten Ideologie des Neoliberalismus. Sofort musste klargestellt werden: »Forderungen nach noch mehr Umverteilung sind für das Bundeswirtschaftsministerium nicht zustimmungsfähig. ... Vor allem Forderungen nach höheren Steuern für die, die den Sozialstaat finanzieren, lehnt das Ministerium entschieden ab.«
    Als der Bericht reif für die Veröffentlichung war, las sich das alles schon viel glatter. Der klare und richtige Satz »Die Privatvermögen in Deutschland sind sehr ungleich verteilt« wurde aus der Einleitung des Berichts gestrichen. Auch die Aussagen zu den Löhnen waren noch mal in der Redigatur. Von den deutlichen Formulierungen des Entwurfs zu Lohnentwicklung, Einkommensspreizung und Gerechtigkeitsempfinden blieb nur übrig, dass sinkende Reallöhne »Ausdruck struktureller Verbesserungen« am Arbeitsmarkt seien. Denn – Rösler hatte darauf bestanden, dass das so aufgenommen wird – zwischen 2007 und 2011 seien im unteren Lohnbereich viele neue Arbeitsplätze entstanden. Vorsichtiger beschrieb die Bundesregierung nun auch, dass manchen Alleinstehenden mit Vollzeitjob der Stundenlohn nicht für die Sicherung des Lebensunterhalts reicht.
    In der ersten Fassung stand noch, dass mittlerweile die Löhne oft nicht mehr für die Sicherung des Lebensunterhalts ausreichen, dass also Arbeit kein Schutz gegen Armut sei und dass dies den sozialen Zusammenhalt gefährde. Das wurde gestrichen. Übrig blieb, diese Entwicklung sei »kritisch zu sehen«. Auch die ursprünglich enthaltene Information, dass im Jahr 2010 etwas mehr als vier Millionen Menschen für einen Bruttostundenlohn von unter sieben Euro arbeiteten, passte offenbar nicht ins politische Konzept. Der Satz wurde einfach gestrichen.
    Die Taktik der Vernebelung begleitet das Thema Armut von Anfang an. Die Kirchen hatten sich darum in ihrem Sozialbericht schon in den neunziger Jahren damit beschäftigt. »Der Streit über den Armutsbegriff ähnelt dem Streit, wie er Anfang der siebziger Jahre über die Umwelt geführt wurde, als Probleme mit dem Hinweis geleugnet wurden, sie ließen sich nicht wissenschaftlich verläßlich nachweisen. Es gilt jedoch, die tatsächlich bestehende Armut zur Kenntnis zu nehmen. Hinter den unterschiedlichen Definitionen von Armut verbergen sich beunruhigende Fakten.«
    Die bestehende Armut zur Kenntnis nehmen: Das ist ein nüchterner Gedanke. Öffnet eure Augen und versteckt euch nicht hinter Begriffen! Zu nüchtern für die Relativierungspolemiker. Sie halten sich lieber an ihre sonderbare Argumentation: Im Vergleich zu einem Armen im Ausland ist ein Armer bei uns ein Reicher, und darum ist er kein Armer. »Von Armut in Deutschland zu sprechen, ist eigentlich eine Verhöhnung der tatsächlichen, bitteren Armut in anderen Weltgegenden, eigentlich ist es ziemlich geschmacklos«, schrieb ein Autor der »Wirtschaftswoche« im Herbst 2012. Man sieht: Es kommen dieselben Argumente immer wieder. Geschmacklos ist aber in Wahrheit nur eine solche Argumentation – und typisch. Die Armen werden gegeneinander ausgespielt. Jene, die im Elend des Hungers leben, gegen die, die im Elend des Wohlstands leben.
    Da war Karl Marx weiter, als er schrieb: »Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw. sind verschieden je nach den klimatischen und anderen natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes. ... Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch ist der Durchschnitts-Umkreis der
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