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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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Aristoteles nennt die Gerechtigkeit die vollkommene Tugend, die Tugend, die alle anderen umfasse. Es gälten »weder Abendstern noch Morgenstern für so bewunderungswürdig wie sie«. John Rawls sagt, Gerechtigkeit sei die höchste Tugend jedes sozialen Systems, so wie die Wahrheit die höchste Tugend jedes gedanklichen Systems sei. Seit man einen Begriff dafür hat, ist das Thema gefährlich. Es dringt in die Spalten des Systems und hat die Kraft, es von innen heraus zu sprengen. Jede Zeit hat ihre eigenen Methoden, den Wunsch nach Gerechtigkeit im Zaum zu halten.
    Die »Bild«-Zeitung zum Beispiel, das Zentralorgan für Alltagsphilosophie und Systemstützung, brauchte einmal ganze vier Absätze und 188 Worte, um festzustellen, dass mit dem Wort von der Gerechtigkeit heute nicht mehr viel anzufangen sei. Im Herbst 2009, als bei den Menschen eine unwillkürliche Empörung um sich griff, hielt das Blatt es für angeraten, sich einmal grundsätzlich mit der Gerechtigkeit zu befassen und dem Begriff den Stachel zu ziehen. »Bild« erkannte die entscheidende Bedeutung des Themas: »Gerechtigkeit – eine der letzten ungeklärten Fragen der Menschheit. Die wenig haben, empfinden große Summen an sich als ungerecht. Die viel haben, verstehen die Aufregung nicht. Diese Gerechtigkeitsfrage wirkt täglich wie ein schleichendes Gift in unsere Gesellschaft hinein.« Es stellte die entscheidenden Fragen: »Eine Mio. Euro Jahresgehalt für einen Top-Job in der Wirtschaft. Kann das gerecht sein? 90 Mio. Euro für einen Balltreter namens Ronaldo – angemessen? 15 Mio. Euro Abfindung für den über sechs Monate im Ergebnis erfolglosen Kaufhaus-Sanierer Eick: gerecht?« Und dann wurde mit aller Entschiedenheit das ganze Thema einfach abgeräumt: »Gerechtigkeit ist wahrscheinlich nur ein schöner Gedanke. Leider.«
    Ganz so leicht wird man das Wort glücklicherweise nicht los. Für Aristoteles ist die Gerechtigkeit keine Sache der Götter und auch keine der Natur. Sie ist Sache der Menschen. Nur wir können sie erzeugen. Aber wenn es uns gelingt, ist das wunderbarer als das Antlitz der Sterne. Nicht Schicksal, Naturgewalt oder göttliche Fügung ist die Gerechtigkeit, und auch nicht unabänderliches Ergebnis anonymer Marktmechanismen, sondern Menschenwerk.
    Der Mensch misst den Menschen an seiner Fähigkeit zur Gerechtigkeit. Das Maß ist ein wichtiger Begriff. Maßvoll handeln. Jede Tugend strebt nach Mitte und Maß. Gerechtigkeit ist die höchste Tugend, weil sie das Maßvolle geradezu verkörpert. Das gilt für beide Gerechtigkeiten des Aristoteles, die austeilende und die ausgleichende, iustitia distributiva und iustitia commutativa . Maß für Maß, Wert und Gegenwert, im Handel wie bei den Handlungen. Auf dem Markt und vor Gericht soll einer zahlen, was ihm gebührt, und bekommen, was er verdient. Es geht um den gelungenen Tausch. Solange der Mensch sein eigenes Äquivalent ist, findet er das Maß der Gerechtigkeit in sich selbst. Aber der Tausch greift über den Menschen hinaus. Selbst Gott musste es sich schon gefallen lassen, dass das rechte Maß an ihn gelegt wird. Auch von ihm wird erwartet, dass er fair handelt. »Warum bleiben die Gottlosen am Leben, werden alt und nehmen zu an Kraft?«, fragt Hiob.
    Offenbar lässt sich das Gefühl für Gerechtigkeit nicht leicht im Zaum halten, wenn es einmal in der Welt ist. Da muss man viel schimpfen, wie Gott es mit Hiob gemacht hat. Oder man muss sich viel Mühe beim Überreden geben, wie der Neoliberalismus es bei der Umwertung aller Werte getan hat.
    Noch einmal zu Hiob: Er ist Gott ausgeliefert, aber er ist ihm moralisch ebenbürtig. Zeigt Hiob nicht, dass der Mensch besser sein und sich besser verhalten kann als Gott? Darüber hat Ernst Bloch geschrieben. Hiob ringt mit Gott und mit seiner Enttäuschung über die Welt, wie sie ist. Er setzt dagegen die Ahnung einer besseren Welt. Und er beschwert sich. Es gibt eine Idee von Gerechtigkeit. Und wenn die Wirklichkeit und die Idee allzu weit auseinandergehen, dann setzt das Murren ein. Das ist das schöne Luther-Wort. Aus dem Murren wird die Klage. Aus der Klage wird die Anklage. Und aus der Anklage entsteht der Aufstand. Hiob rebelliert. Aber Gott mauert. Er entzieht sich. Hiobs Klage ist konkret. Gott weicht aus: »Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sage mir’s, wenn du so klug bist.« Und dann stellt Gott dem armen Hiob lauter Quizfragen aus dem Reich der Natur, die der natürlich nicht beantworten kann. Aber um die
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