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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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Umso wichtiger wird das von den Kirchen seit langem vertretene Postulat einer breiteren Vermögensstreuung.« Das war im eigentlichen Sinne des Wortes revolutionär. Weil eine Umverteilung der Umverteilung gefordert wurde. Dass man nicht nur zusieht, wie die Armen sich um die Brocken streiten. Sondern von den Tischen der Reichen nimmt. Die Kirchen hielten das damals noch für möglich. Und die Politik auch. Voraussetzung dafür, dass die Politik dieser Aufgabe nachgehen konnte, war aber der Überblick über die Lage. Und daran haperte es in Deutschland. »Reichtum ist ein scheues Wild«, schrieben die Abgeordneten in ihrem Antrag. Der Reichtum und vor allem seine Ursachen seien »unbekannte Größen«. Und wieder zitierte die Politik die Kirchen: »So beklagen die beiden Kirchen in ihrem Sozialwort zu Recht: ›Verläßliche Daten über die Vermögensverteilung und -entwicklung in Deutschland liegen in ausreichendem Umfang nicht vor. Sie sollen durch einen regierungsoffiziellen Bericht an den Deutschen Bundestag regelmäßig geliefert werden. Die Bundesregierung hat dafür Sorge zu tragen, daß ein solcher Bericht nicht zu einem Zahlengrab wird.‹« Politik sollte betrieben werden, keine Statistik. Oder Statistik nur im Dienst der Politik.
    Der Auftrag wurde erfüllt, wenn auch nur zum Teil: Seit dem Frühjahr 2001 dokumentieren die Berichte alle drei bis fünf Jahre den Zerfall der Gesellschaft. Sie führen Buch über die Entwicklung. Die Zunahme der Armut wurde minutiös festgehalten. Die Zunahme des Reichtums dagegen nicht, wie wir weiter unten sehen werden. Armut lässt sich allerdings auch nicht so gut verstecken. Reichtum dagegen schon. Die Statistiker haben ihre Arbeit so gut gemacht, wie sie konnten. Die Politiker nicht. Es fehlte der Wille. Und durch Zahlen lässt er sich nicht ersetzen.
    Kein Zahlengrab – die Autoren der ersten Studie nahmen das ernst und fällten eine richtige und mutige Entscheidung: Sie definierten Armut nicht als statistischen Wert, sondern als politischen Zustand. Im ersten Bericht heißt es: »Der Bericht orientiert sich an der Definition des Rates der Europäischen Gemeinschaft von 1984, nach der Personen, Familien und Gruppen als arm gelten, ›die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist‹.«
    Was ist »annehmbar«? Dieses Wort steht stellvertretend für den Streit um die gute Gesellschaft. Wo ist die Grenze? Was muten wir unseren Schwächsten zu? Wie gehen wir miteinander um? Was halten wir von uns? Wofür stehen wir?
    Aber wer die Antwort nicht wissen will, der leugnet erst einmal die Frage. Alle, denen das Gerede von Armut und Reichtum nicht passt, zerlegen zunächst die Begriffe. Das ist ein eingeübtes Verfahren. »Armut ist eine Frage der Definition – wissenschaftlich gesehen« titelte die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« im April 2001, als der erste Armutsbericht vorgelegt wurde: »Wer ist eigentlich arm? Der, der seinen Kindern keine neue Kleidung kaufen kann, der nur eine Tasse Reis am Tag zu essen hat, oder der, der zwar vermögend ist, aber unheilbar krank?« So kann man sich ein Thema vom Leib halten: Man erklärt es erst zur Definitionsfrage und erklärt es damit einfach weg. Dass mit der Formulierung des Europäischen Rates eine kluge übergeordnete Definition vorliegt – vergessen. Auch dass die Europäische Union noch über eine konkretere Definition verfügt – verweht. Danach gelten Menschen als armutsgefährdet, wenn sie mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung auskommen müssen. Im Jahr 2012 stand ein Einpersonenhaushalt in Deutschland dann an der Armutsgrenze, wenn er über ein Monatseinkommen von weniger als 952 Euro im Monat verfügt, im Jahr zuvor waren es noch 848 Euro gewesen und im Jahr davor 826 Euro. Denn natürlich hebt sich bei wachsendem mittleren Einkommen auch die Armutsgrenze.
    Im Entwurf zum Armutsbericht, der im Herbst 2012 an die Öffentlichkeit geraten war, hatten sich diese Zeilen gefunden: »Während die Lohnentwicklung im oberen Bereich positiv steigend war, sind die unteren Löhne in den vergangenen zehn Jahren preisbereinigt gesunken. Die Einkommensspreizung hat damit zugenommen.« Diese verletze »das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung« und könne »den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden«. Der Bericht wird vom Arbeits- und
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