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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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Dialektik aus. Man kann nur auf sie verzichten, wenn man über sie verfügt. Aber wie soll man sich das vorstellen? Soll der Staat sich einer oppositionellen Gruppe gegenüber in einer Rolle wiederfinden, wie sie die Nato gegenüber dem Warschauer Pakt einnahm? In einem komplizierten, spieltheoretischen Geflecht aus Drohung und Mäßigung, aus Berechenbarkeit und Autonomie? Das wäre das Ende des Staates, wie wir ihn kennen.
    Man sollte sich nicht darüber wundern, dass die Dinge im Nebel liegen. Nach dem Konkurs des Sozialismus, nach dem scheinbaren Siegeszug des Neoliberalismus, der aber in seinen offensichtlichen moralischen Kollaps mündete, stehen wir mit leeren Händen da. Der französische Philosoph Alain Badiou hat gesagt: »Es geht uns ähnlich wie dem jungen Marx: Das Kapital ist an der Macht, die Probleme der Gesellschaft eskalieren, aber es ist keine Bewegung mit umwälzender Tendenz in Sicht. Also muss man suchen. Das Unvorhergesehene. Fernab vom Staat.«
    Fernab vom Staat blühen in den Nischen die Träume. Hoffentlich tun sie das. Aber was haben in Frankreich die Eisenkrallen auf der Oberleitung bewirkt? Ist das Staatsdefizit gesunken? Sind mehr Lehrer eingestellt worden? Wurde die Arbeitslosigkeit bekämpft? Sind Mütter und Väter zu besseren Eltern geworden und die Menschen zu besseren Bürgern? Was ist der Sinn solcher Aktionen? Man kann diese Fragen stellen. Aber man sollte sich durch das Ausbleiben von Antworten nicht ins Bockshorn jagen lassen. Nicht jede Frage, die sich nicht beantworten lässt, beschreibt einen sinnlosen Zusammenhang. Denn worin liegt zum Beispiel der Sinn, zur Wahl zu gehen? Das ist das berühmte Partizipationsparadox. Jeder Bürger weiß, dass seine Stimme am Ergebnis nichts ändert. Dennoch tut jeder Bürger gut daran, sich zu beteiligen. Denn der Wahlakt des Einzelnen konstituiert das Ganze.
    Gilt das dann auch für diese Akte der Sabotage? Es wird kein Zusammenhang herzustellen sein zwischen einem stehengebliebenen Schnellzug auf freier Strecke und einer politischen Maßnahme, einer wirtschaftlichen Entwicklung, einer sozialen Gesetzgebung. Aber wie, muss man sich fragen, wird das gesellschaftliche Klima beeinflusst, wenn sehr viele Züge an sehr vielen Tagen auf freier Strecke stehenbleiben? Ist es denkbar, dass die Sabotage eine Funktion hat? Dass sie die Abgrenzungsrealität darstellt, die dem System abhandengekommen ist? Dass sie ein Zeichen dafür ist, dass es eine Alternative gibt? Eine Erinnerung daran, dass es Menschen gibt, die eine solche Alternative suchen, davon träumen? Das wäre eine wertvolle Erinnerung, und zwar sowohl für jene, die sogleich die Polizei in Marsch setzen, um die Saboteure der Gerechtigkeit zuzuführen, als auch für jene anderen, die im Stillen wünschen, der Staat möge sich ihrer nie bemächtigen. Die Sanktion muss sich rechtfertigen, die Justiz muss sich rechtfertigen. Jeder politische Akt gewinnt im Augenblick seiner Bekämpfung an Bedeutung. Das gilt wenigstens für die offene Gesellschaft. Es gibt kein Entkommen aus dem ehernen Gesetz der Mediendemokratie.
    Der Student Schneider und seine Generation hatten erkannt, dass man die Regeln der Gesellschaft brechen muss, wenn man die Gesellschaft ändern will. Innerhalb der Regeln reproduziert sich die Gesellschaft nur immer aufs Neue. Damals war es ein Regelbruch, sich auf den Fußboden zu setzen. Heute liegt die Sensationsschwelle deutlich höher. Die Saboteure von Frankreich haben sich die Eisenbahn ausgesucht. Wenn die Züge stehen, fragen die Leute: »Warum?«
    Die protestierenden Ford-Arbeiter aus Belgien haben niemanden gestört. Darum konnte es sich der Konzern leisten, ihnen nur seine »Enttäuschung« mitzuteilen. Darum konnte es sich auch die Polizei leisten, auf die Auflösung der, streng genommen, verbotenen, weil nicht angemeldeten Versammlung zu verzichten. Diese Arbeiter kratzten nicht einmal an den vereinbarten Regeln des überaus flexiblen Kritikkapitalismus, in den wir eingebettet sind. Sie spielten die ihnen zukommende Rolle des wütenden Mobs und ließen ein bisschen körperliche Gewalt aufleuchten, wie man es von einfachen Leuten erwarten kann, die von den Verwicklungen der globalisierten Moderne nichts verstehen. Und der Konzern spielte seine Rolle: sehr zivilisiert und bedacht, ein bisschen enttäuscht zwar, aber doch gnädig – denn auf Anzeige wurde verzichtet. Diese Arbeiter waren im Rahmen des Protests steckengeblieben. Was wäre eigentlich geschehen, wenn
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