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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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Verzehr von Polizisten.
    Diesen Urzustand hatte der »natürliche Mensch«, von dem Thomas Hobbes schrieb, einst gegen den Zustand der Ordnung des Staates eingetauscht. Er hat den Gesellschaftsvertrag geschlossen. Er unterwirft seine Freiheit dem Leviathan des Staates und erhält dafür Schutz und Chance auf Wohlstand. Das ist ein Vertrag zu beiderseitigen Lasten. Wenn eine Partei ihn kündigt, wird er hinfällig. Der Staat, der weder den Wohlstand seiner Bürger mehr schützen kann noch ihre Moral vertritt, verwirkt den Anspruch auf Gehorsam und Loyalität. Der Staat, der nur wenige Tage braucht, um Milliardenbeträge für die Rettung der Banken bereitzustellen, aber viele Jahre, um die Finanztransaktionssteuer einzuführen, ist dabei, diesen Anspruch zu verwirken.
    »Take what you can, give nothing back«, sagt Jack Sparrow. Das ist die Moral der Piraten, nach der die Finanzkapitäne handeln, in deren Händen unser aller Schicksal ist. Und wir werfen den Plünderern von Tottenham Straftaten vor und den TGV-Saboteuren Terrorismus. Im Sozialismus war es üblich, dass die Theorie und ihre Wirklichkeit auseinanderklafften. Daran ist das System zerbrochen. Jetzt ist der Kapitalismus dran. Die Kluft wird immer größer. Eine offene Gesellschaft tut sich damit schwer. Den dauerhaften moralischen Notstand verkraftet sie nicht. Sie zeigt Risse und bricht.
    Die Aufstände in London und Paris waren solche Risse. Die Politik weiß das. Als auch einmal in Berlin ein Kabelkasten der S-Bahn in Brand gesetzt wurde – mit verblüffendem Erfolg, tagelang waren ganze Linien lahmgelegt –, da sagte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, es gebe keinerlei Ideologie, die solche Taten rechtfertigen könne. Und der Grüne Volker Beck nannte die Täter »einen losen, wirren Haufen von Chaoten«. Er sehe »weder Hinweise auf eine verfestigte Organisationsstruktur noch auf einen ideologischen Unterbau«. Das war der Versuch, sich die Sache vom Leib zu halten: Keine Ideologie? Dann handelt es sich um einen nicht satisfaktionsfähigen Protest! Weggetreten! Da sah der Grüne Beck plötzlich ziemlich grau aus. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Widerstand, der aus der Wurzel kommt, ohne »verfestigte Organisationsstruktur« und »ideologischen Unterbau« auskommt. Immerhin stand wenigstens in dieser Frage einmal eine rot-rot-grüne Koalition fest zusammen. Halina Wawzyniak, die damalige Vizevorsitzende der Linken, erklärte: »Wer Sprengsätze wirft und Brandsätze hinterlegt, ist nicht links, sondern ein Straftäter. Gewalt ist grundsätzlich kein Mittel der Politik, auch keines linker Politik.«
    Das muss man als Politiker sagen. Eigentlich müsste man aber mit der Linken eine Debatte darüber führen, wo die Gewalt anfängt, von wem sie ausgeht und was sie bewirkt. Man müsste mit ihr über Johan Galtungs berühmtes Konzept von der strukturellen Gewalt sprechen: »Gewalt liegt dann vor«, sagt der norwegische Friedensforscher, »wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.« 21 Man müsste darüber streiten, ob das nur ein gefährliches Konzept ist oder auch ein hellsichtiges – oder beides. Denn wo landen wir, wenn jeder narzisstisch gestörte Konsum- und Kapitalismuskritiker zur Bombe greift und sich dabei auf Galtung beruft oder auf Markuse oder auf die »Unsichtbaren« oder auf was auch immer? Wie man eine gesellschaftspolitische Theorie bewertet, hängt sehr stark mit dem Grad der Wahrscheinlichkeit zusammen, die man ihrer Realisierung beimisst. Die wirksamsten Ideen können die sein, die niemals realisiert werden. Es kann zu einem Wirkungsparadoxon kommen: Was tun wir, wenn die Anwendung von politischer Gewalt in die Irre führt, aber der Verzicht darauf auch? Auch die »Unsichtbaren« müssen sich hier verheddern: »Es gibt keinen friedlichen Aufstand. Waffen sind notwendig: Es geht darum, alles zu tun, um ihren Gebrauch überflüssig zu machen. Ein Aufstand ist mehr ein Ergreifen der Waffen, ein ›bewaffneter Bereitschaftsdienst‹, als ein Übergehen zum bewaffneten Kampf.« Das klingt nicht sehr überzeugend. Und bevor man zur Gewehrausgabe schreitet, hätte man das gerne noch ein bisschen genauer gewusst. Dieser Gedanke dagegen hat es in sich: »In Wahrheit stellt sich die Frage des Pazifismus ernsthaft nur für denjenigen, der die Feuerkraft besitzt.« Die politische Gewalt zeichnet sich durch eine eigenartige
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