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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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und Umworbenen, einfach zu verbrennen. ... Sosehr wir den Schmerz der Hinterbliebenen in Brüssel mitempfinden: wir, die wir dem Neuen aufgeschlossen sind, können, solange das rechte Maß nicht überschritten wird, dem Kühnen und Unkonventionellen, das, bei aller menschlichen Tragik, im Brüsseler Kaufhausbrand steckt, unsere Bewunderung nicht versagen.«
    Die französischen Saboteure der Gegenwart zündeten jedoch keine Kaufhäuser an. Im Jahr 2008 wurden Züge zum Stehen gebracht, es gab Verzögerungen im Fahrplan, es gab entnervte Reisende, wütende Bahnfunktionäre, und die Sicherheitsbehörden waren alarmiert. »Diese Leute wollten die SNCF (die französische Eisenbahngesellschaft) angreifen, weil sie ein Symbol des Staates ist und weil sie wussten, dass ihre Handlungen ein starkes Medienecho hervorrufen würden«, sagte die damalige Innenministerin Michèle Alliot-Marie. War das Terrorismus? Oder Vandalismus? Jugendlicher Leichtsinn? Vorstufen der Anomie? Es waren politische Aktionen, also Handlungen. Sabotage ist eine aktive Form des zivilen Ungehorsams.
    Die Saboteure, daran zweifelte in Frankreich niemand, hatten das inzwischen weithin bekannt gewordene Manifest »Der kommende Aufstand« gelesen. Es war von einem »Unsichtbaren Komitee« verfasst und wurde später über das Internet verbreitet. Das war ein staunenswertes Stück politischer Lyrik oder romantischer Theorie. Es beginnt mit den Worten: »Unter welchem Blickwinkel man sie auch betrachtet, die Gegenwart ist ausweglos.« Und endet mit der Frage: »Wie werden wir uns wiederfinden?« Diese Frage wurde in der deutschen Fassung vielleicht darum in Versalien gesetzt, weil in ihr das ganze Anliegen des Textes zusammenläuft: Wie entkommen wir uns selbst, wenn wir die geworden sind, die der Kapitalismus aus uns gemacht hat? Es ist die Kehrseite jenes Satzes, den die Terroristin Gudrun Ensslin über die Richter gesagt hat, die sie verurteilten: »Sie sind wie alle, die in diese Gesellschaft integriert sind. Sie können nicht tun, was sie wollen, denn sie wollen nur das, was sie sollen.«
    Dem Text des Komitees war – wie seinerzeit Marcuses Werk über die repressive Toleranz – eine bürgerkriegsähnliche Eruption vorangegangen. In einer Pariser Vorstadt wähnten sich Ende 2005 zwei Jugendliche, die aus Einwandererfamilien stammten, von der Polizei verfolgt. Sie flüchteten und überwanden dabei den Zaun einer Transformatorenstation. Dort gerieten sie in die Anlagen und wurden von Stromschlägen tödlich getroffen. Von Clichy-sous-Bois, woher die Jungen kamen und wo sie starben, breitete sich der Aufruhr in kurzer Zeit über das ganze Land aus.
    Daraufhin verfassten die »Unsichtbaren« ihren Text, als innere Anleitung und Aufforderung zum Aufstand gegen das System. Hier sollten die Brücken abgebrochen werden. Der Protest der Globalisierungskritiker oder der politische Kampf der Grünen, das hielten die »Unsichtbaren« alles für eitlen Tand, der doch nur das System stärkt und stützt, anstatt es zu reformieren oder zu ersetzen. Die Ökologie wurde als »stahlhartes Lächeln des neuen grünen Kapitalismus« verspottet. Stattdessen wurde die Vision eines neuen Leben entworfen und ein lustvoll-paradoxer Anarchismus gefeiert: »Organisationen sind dort überflüssig, wo man sich organisiert.« Also nieder mit dem Geld, mit dem Kredit, mit der Arbeit! Nieder mit der Polizei, mit der Ordnung. Nieder auch mit den Gewerkschaften und ihrer »Mikrobürokratie«, »deren Berufung es ist, die Kämpfe einzugrenzen«. Ein neues Leben abseits der Städte, auf dem Land, im Schoß neu entstehender Kommunen. Das ist der reine Rousseau, der da aus den »Unsichtbaren« spricht. In seinem »Émile« heißt es: »Die Stadt ist der Schlund, der das Menschengeschlecht verschlingt. Nach einigen Generationen geht die Rasse zugrunde oder entartet. Sie muß sich erneuern, und immer ist es das Land, das dazu beiträgt. So schickt eure Kinder dorthin, wo sie sich sozusagen selbst erneuern und wo sie inmitten der Felder die Kräfte gewinnen, die man in der ungesunden Luft einer übervölkerten Stadt verliert.« Man darf vermuten, dass die »Unsichtbaren« diesem Rat gefolgt sind. Es gab da eine Kommune, in dem kleinen Ort Tarnac im Limousin, das ist mitten in Frankreich, dort, wo La France profonde am tiefsten ist, da vermutete die Polizei den Hort dieses kommenden Aufstands, den Sitz der unsichtbaren Autoren und Basis der Eisenbahnsaboteure. Aber es ließ sich nichts
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