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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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Verboten die kriminelle Gleichgültigkeit einer ganzen Nation austobt« – in diesem Satz zitierte der Student Schneider einen schwerwiegenden Gedanken der modernen Gesellschaftsanalyse, den Gedanken der »repressiven Toleranz«. Herbert Marcuse hatte dieses Wort 1965 in seiner »Kritik der reinen Toleranz« geprägt:
    »Toleranz wird auf politische Maßnahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen ausgedehnt, die nicht toleriert werden sollten, weil sie die Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören.« 20 Wer in einer von repressiver Toleranz geprägten Gesellschaft seine Rechte ausübt – das Recht der Wahl, der freien Rede, der unabhängigen Presse –, stärkt diese Gesellschaft, weil er durch seine Handlungen Zeugnis ablegt für »das Vorhandensein demokratischer Freiheiten ..., die in Wirklichkeit jedoch längst ihren Inhalt verloren haben. In einem solchen Fall wird die Freiheit zu einem Instrument, die Knechtschaft freizusprechen.«
    Marcuse schrieb, dass »unterdrückte und überwältigte Minderheiten« ein »›Naturrecht‹ auf Widerstand« hätten, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt hätten. Er hatte die Schwarzen aus dem Stadtteil Watts vor Augen, jener Gegend von Los Angeles, in der es 1965 zu einem kleinen Bürgerkrieg gekommen war – das Wort Aufstand oder Unruhe trifft es nicht mehr. Sechs Tage dauerten die Kämpfe, 34 Tote und über 1000 Verletzte waren ihre Folge. »Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte«, schrieb Marcuse.
    Taugt dieser Gedanke heute noch etwas? Leben wir in einer »repressiven Gesellschaft«, in der die Gewaltanwendung gerechtfertigtes Mittel ist, ein anders nicht behebbares Übel zu bekämpfen? Wir scheuen uns, unsere eigenen Verhältnisse in solchen Kategorien zu denken – Knechtschaft.
    Im Jahr 2008 wurden in Frankreich Betonplatten auf die Schienen gelegt und Eisenkrallen in die Oberleitungen der Züge gehängt. In Deutschland würde man in solchen Fällen von Anschlägen sprechen, in Frankreich benutzte die Presse das Wort »Sabotage«. Das ist der treffendere Begriff. Er ermöglicht nämlich eine Differenzierung, von der man in Deutschland nichts mehr wissen will: die Unterscheidung zwischen der Gewalt gegen Personen und der Gewalt gegen Sachen. Die deutsche Studentenbewegung hielt noch daran fest, daran, dass Gewalt gegen Sachen manchmal zu rechtfertigen sei, Gewalt gegen Personen aber niemals. Der Linksextremismusexperte Wolfgang Kraushaar sagt, die Unterscheidung sei bald hinfällig geworden: »Vor, hinter und neben den Objekten standen häufig Polizeikräfte, die einen dazu zwangen, zu entscheiden, ob eine offensive Aktion abzubrechen oder trotz zu erwartender gewaltsamer Auseinandersetzungen durchzuführen sei. Um zu legitimieren, was in einem solchen Falle passieren könne, bediente sich APO-Anwalt Horst Mahler der Metapher vom ›platzenden Autoreifen‹. So wie ein Wagenlenker immer damit rechnen müsse, daß ein platzender Reifen einen Unfall und damit einen Personenschaden verursachen könne, so müsse sich auch ein Revolutionär darüber im klaren sein, daß es im Zuge seiner Handlungen zu ›Personenschäden‹, also auch zu Verletzten und zu Todesopfern kommen könne. Das gehöre in gewisser Weise zum revolutionären Berufsrisiko.« Nun ist dieser Mahler, der vom menschenverachtenden linken Wahn in den menschenverachtenden rechten Wahn fiel, kein guter Kronzeuge, ganz gleich für welches Argument.
    Und die gewalttätige deutsche Studentenbewegung bis hin zur RAF mit ihrer schrecklich-traurigen Geschichte taugt auch nicht gerade als Vorbild, außer für den Absturz in eine paranoid-sinnlose Wahnwelt aus Gewalt und (Selbst-)Zerstörung. Solche Bewegungen zeichneten sich vor allem durch ihre kalte Amoralität aus. Im Mai 1967 ging in Brüssel ein Kaufhaus in Flammen auf, über 300 Menschen starben. Es war ein Unglück, kein Anschlag. Die Berliner Kommune 1 veröffentlichte daraufhin eine Reihe berühmt gewordener Flugblätter. Im ersten hieß es: »Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum erstenmal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabei zu sein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen. Skeptiker mögen davor warnen, ›König Kunde‹, den Konsumenten, den in unserer Gesellschaft so eindeutig Bevorzugten
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