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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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an die Gleise anketten, oder wie es die Demonstranten von Mutlangen in den achtziger Jahren taten, die sich auf die Zufahrtsstraßen der Pershing-II-Depots setzten und sich von der Polizei wegtragen ließen – da war ja auch, wir erinnern uns, Walter Jens dabei, der damals immerhin schon 60 Jahre alt war.
    Das sind bedeutungsvolle Handlungen in der politischen Auseinandersetzung. Denn im digitalen Zeitalter müssen wir mit dem Verschwinden des Körpers rechnen. Die Liquid Democracy der Piraten will geradezu mit Absicht ohne den Körper auskommen. Die Abwesenheit des Körpers ist Bestandteil eines grundlegenden Piraten-Konzepts: der Plattformneutralität. »Körperliche Auseinandersetzungen sind nicht plattformneutral«, sagt die Piraten-Denkerin Marina Weisband, »ich kann zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen nicht so gut stundenlang draußen herumlaufen wie andere.« Aber ohne den Körper fehlt der Politik etwas. Das letzte Argument. Der höchste Einsatz. Der Körper ist gleichzeitig das stärkste Symbol und die stärkste Realität. Und der Körper ist das einzige Kapital, das auch den Kapitallosen zur Verfügung steht. Wir werden uns am Ende dieses Buches im Rahmen der Überlegungen zur Gewalt in der Politik noch mehr mit dem Körper beschäftigen. Hier genügt diese Feststellung: Es hat einen Grund, warum unser politisches Herrschaftssystem auf den Ausschluss des Körpers dringt, und es hat einen Grund, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Der Körper muss Teil der politischen Auseinandersetzung sein. Eine »plattformneutrale« Politik gibt es nicht.

13 SABOTAGE
    Im November 2012 fuhren 200 Arbeiter mit Bussen nach Köln und belagerten die deutsche Zentrale des Ford-Konzerns. Sie kamen aus der belgischen Stadt Genk, die mitten in einem alten Kohlerevier liegt. Die letzte Mine hatten dort in den achtziger Jahren ihre Schächte geschlossen. Ford betreibt ein großes Werk in Genk, als größter Arbeitgeber der Stadt. Dieses Werk soll aufgegeben werden, alle 4500 Arbeitsplätze werden verlorengehen und noch 5000 weitere bei Zulieferern, die daran hängen. Das sind 9500 Arbeitsplätze – in einer Stadt mit 65.000 Einwohnern.
    Die protestierenden Arbeiter blockierten die Ford-Zentrale, sie zündeten Reifen an, warfen mit Feuerwerkskörpern und prügelten sich mit den Kölner Polizisten und der eilends aus Düsseldorf herbeigerufenen Verstärkung. Einige Arbeiter stürmten das Firmengelände und schmissen dort Fensterscheiben ein.
    Die Unternehmensleitung von Ford reagierte nach den Regeln des souveränen Herrschaftsdiskurses: Sie äußerte Verständnis für die Verärgerung der belgischen Beschäftigten, kritisierte aber die Form des Protests. »Natürlich verstehen wir auf der einen Seite, welchen Einfluss unser europäischer Geschäftsplan auf die Menschen hat«, erklärte Ford Deutschland: »Auf der anderen Seite sind wir enttäuscht darüber, dass einige der Protestierenden sich gewaltsam Zugang zum Werksgelände verschafft haben.«
    Die Manager konnten sich so verhalten, weil sie sich nicht wirklich bedroht sahen und weil sie die Mehrheitsmeinung der Öffentlichkeit auf ihrer Seite wussten. Sie gebrauchten die Gewalt der Demonstranten als Argument der Diskreditierung. Die Überlegenheit des Konzerns spiegelt sich in dem Wort »Enttäuschung« wider. Das klingt still und ernst und zivilisiert. Kein Hass, kein Konflikt, keine Wut, keine Angst. Stattdessen Enttäuschung. Das genügte schon. Aber was hatten die Arbeiter getan? Sie hatten die objektiv nicht bestehende »Plattformneutralität« der politischen Verhältnisse auf die einzige Art ausgeglichen, die ihnen zur Verfügung stand: durch den Einsatz ihres Körpers und durch den Einsatz körperlicher Gewalt.
    Das ist ein Tabubruch. Die Gewalt in der Politik ist zum Tabu geworden. Und die Abschottung der Gesellschaft gegen die Gewalt wird immer dichter. Das Körperliche ist ungebildet und roh und etwas für einfache Leute. Je weiter Wissensgesellschaft und Digitalisierung voranschreiten, desto weiter entfernen wir uns vom Körper und damit auch von der Gewalt. Denn sobald der Körper ins Spiel kommt, hat auch die Gewalt ihren Auftritt. Wir sprechen zwar von verbaler Gewalt oder psychischer Gewalt. Das sind, in ihren jeweiligen Zusammenhängen, auch sinnvolle Begriffe. Aber ihrem Wesen nach ist die Gewalt an den Körper gebunden, und seine Gegenwart öffnet ihr Potential. Bei einer Demonstration stehen die Körper der Demonstranten denen der Polizisten in
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