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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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Teilen der Welt, wir kennen die Bilder, wir wollen das nicht bei uns, von keiner Seite.
    Im Mai 1967 hielt der Germanistikstudent Peter Schneider im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin diese Rede:
    » Wir haben in aller Sachlichkeit über den Krieg in Vietnam informiert, obwohl wir erlebt haben, dass wir die unvorstellbarsten Einzelheiten über die amerikanische Politik in Vietnam zitieren können, ohne dass die Phantasie unserer Nachbarn in Gang gekommen wäre, aber dass wir nur einen Rasen betreten zu brauchen, dessen Betreten verboten ist, um ehrliches, allgemeines und nachhaltiges Grauen zu erregen.
    Wir haben vollkommen demokratisch gegen die Notstandsgesetze demonstriert, obwohl wir gesehen haben, dass wir sämtliche Ränge des Zivildienstes aufzählen können, ohne irgendeine Erinnerung wachzurufen, aber dass wir nur die polizeilich vorgeschriebene Marschrichtung zu ändern brauchten, um den Oberbürgermeister und die Bevölkerung aus den Betten zu holen. Wir haben ruhig und ordentlich eine Universitätsreform gefordert, obwohl wir herausgefunden haben, dass wir gegen die Universitätsverfassung reden können, so viel und so lange wir wollen, ohne dass sich ein Aktendeckel hebt, aber dass wir nur gegen die baupolizeilichen Bestimmungen zu verstoßen brauchen, um den ganzen Universitätsaufbau ins Wanken zu bringen. Da sind wir auf den Gedanken gekommen, dass wir erst den Rasen zerstören müssen, bevor wir die Lügen über Vietnam zerstören können, dass wir erst die Marschrichtung ändern müssen, bevor wir etwas an den Notstandsgesetzen ändern können, dass wir erst die Hausordnung brechen müssen, bevor wir die Universitätsordnung brechen können.
    Da haben wir den Einfall gehabt, dass das Betretungsverbot des Rasens, das Änderungsverbot der Marschrichtung, das Veranstaltungsverbot der Baupolizei genau die Verbote sind, mit denen die Herrschenden dafür sorgen, dass die Empörung über die Verbrechen in Vietnam, über die vergreiste Universitätsverfassung schön ruhig und wirkungslos bleibt.
    Da haben wir gemerkt, dass sich in solchen Verboten die kriminelle Gleichgültigkeit einer ganzen Nation austobt.
    Da haben wir es endlich gefressen, dass wir gegen den Magnifizenzwahn und akademische Sondergerichte, gegen Prüfungen, in denen man nur das Fürchten, gegen Seminare, in denen man nur das Nachschlagen lernt, gegen Ausbildungspläne, die uns systematisch verbilden, gegen Sachlichkeit, die nichts weiter als Müdigkeit bedeutet, gegen die Verketzerung jeder Emotion, aus der die Herrschenden das Recht ableiten, über die Folterungen in Vietnam mit der gleichen Ruhe wie über das Wetter reden zu dürfen, gegen demokratisches Verhalten, das dazu dient, die Demokratie nicht aufkommen zu lassen, gegen Ruhe und Ordnung, in der die Unterdrücker sich ausruhen, gegen verlogene Rationalität und wohlweisliche Gefühlsarmut – dass wir gegen den ganzen alten Plunder am sachlichsten argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren und uns hier in den Hausflur auf den Fußboden setzen. Das wollen wir jetzt tun. « 19
    Damals lernten die Studenten den zivilen Ungehorsam und ihre Nazi-Eltern das Fürchten. Aber das ist bald ein halbes Jahrhundert her. Heute sitzen die Studenten im Flur, weil die Seminarräume überfüllt sind. Niemand würde auf die Idee kommen, man könnte das System dadurch beeindrucken, dass man sich irgendwohin setzt. Schon die Sitzdemonstranten von Mutlangen, die 1983 noch wegen Nötigung angeklagt und verurteilt worden waren, wurden im Nachhinein vom Bundesverfassungsgericht rehabilitiert: Sitzen, so stellten die Richter 1995 fest, ist keine Gewalt und darum keine Nötigung. Alle können sich mehr oder weniger überall hinsetzen und machen sich dann vielleicht einer Ordnungswidrigkeit schuldig. Und alle können heute alles sagen und begehen damit vielleicht eine Geschmacklosigkeit. Wenn sich Leute über Tabus beklagen, tun sie das, weil sie sich beklagen wollen, nicht wegen der Tabus. Wo gibt es denn welche? Es gibt nur noch das Tabu der Gewalt.
    Wir sind sehr frei. Aber diese Freiheit hat einen schalen Beigeschmack bekommen. Hier weht nicht der frische Wind der Möglichkeiten. Freiheit bedeutet Freiheit der Wahl. Freiheit bedeutet auch Freiheit der Handlung im Zustand der Verantwortung für die Folgen. So gesehen kennen wir gar keine Freiheit: Wir haben nicht die Wahl, und es traut uns auch niemand zu, die Verantwortung zu tragen.
    »Da haben wir gemerkt, daß sich in solchen
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