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SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)

Titel: SABOTAGE: Warum wir uns zwischen Demokratie und Kapitalismus entscheiden müssen (German Edition)
Autoren: Jakob Augstein
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immer verabschiedet.« (Siehe das Gespräch auf Seite 197.) Aber das Risiko einer Eskalation am Reichstagsgebäude hätte er für vertretbar gehalten. Politisch motivierte Gewalt ist in der demokratischen Auseinandersetzung immer eine graduelle Frage. Zwischen der Nichtkörperlichkeit der digitalen Demokratie und dem Bürgerkrieg aller gegen alle liegt ein Spektrum der fließenden Übergänge. Es gibt auf diesem Spektrum einen Punkt, wo ein Quantum mehr an Gewalt in eine neue Qualität der Politik umschlägt. Occupy hat sich, wie die belgischen Ford-Arbeiter, an die Regeln gehalten – und blieb darum wirkungslos. Das ist ein Paradox des politischen Protests im modernen Kapitalismus: Wenn er sich an die Regeln hält, bleibt seine Wirkung schwach. Wenn er die Regeln bricht, verliert er seine Akzeptanz. Die politischen Bewegungen müssen den Versuch unternehmen, die bestehenden Regeln zu strapazieren und die Akzeptanz des Widerstands zu erweitern.
    Alain Badiou hat im Zusammenhang mit der Frage, was von unserer Demokratie zu halten ist, geschrieben: »Um überhaupt an das Reale der Gesellschaft heranzukommen, muss man sich von ihrem Wahrzeichen verabschieden. Man wird der Welt, in der wir leben, nur dann gerecht, wenn man das Wort ›Demokratie‹ einmal beiseitelässt und das Risiko eingeht, kein Demokrat zu sein und damit tatsächlich von ›aller Welt‹ missbilligt zu werden. Denn ›alle Welt‹ ist – bei uns – ohne jenes Wahrzeichen nicht zu denken. ›Alle Welt‹ ist demokratisch.« Was wäre, wenn man diesen Gedanken auf die Gewalt ausdehnte?

14 ENDE
    Wir haben begonnen mit einem Youtube-Video: die London riots , Plünderungen und Überfälle. Wir enden mit einem Bild. Aufgenommen wurde es im September 2012: Ein junger Mann mit Brille und Rucksack verlässt ein Geschäft. In seinem Gesicht trägt er ein Lächeln. Beide Arme sind zum Himmel gereckt. In einer Hand hält er eine kleine weiße Schachtel. Hinter ihm stehen rechts und links zwei schwere Männer in uniformähnlichen Jacken und lächeln. Von links reckt sich eine Hand ins Bild, die mit einer kleinen Digitalkamera den Augenblick festhält: Der 21-jährige Ralf Marth hat das erste iPhone 5 von München gekauft. In der »Münchner Abendzeitung« stand: »›Es ist einfach Kult, ein iPhone zu kaufen‹, sagte Marth, als er von rhythmisch klatschenden Mitarbeitern der Stores empfangen wurde.«
    Walter Benjamin hätte sich gefreut. Er hat den Kapitalismus als »reine Kultreligion« bezeichnet, »vielleicht die extremste, die es je gegeben hat«. Keine Dogmatik, keine Theologie, nur Kult.
    In Hamburg hatten in der Nacht zuvor 2500 Menschen auf die Öffnung des Apple-Tempels gewartet, in langen Schlangen, wie Gläubige eine Epiphanie erwarten, geordnet nach zwei Konfessionen: »iPhones mit Nano-SIM-Karte« und »iPhones ohne Nano-SIM-Karte«. Aber Apples Gerechtigkeit galt für alle in gleichem Maß: »Pro Kunde werden maximal zwei Handys ausgegeben.« Da ging es den Apple-Jüngern besser als seinerzeit Monty Pythons zum Kreuzestod Verurteilten: »Durch die Tür hinaus, zur linken Reihe, jeder nur ein Kreuz. Der Nächste.« Das ist eben der Unterschied: Das Kreuz ist das Zeichen des ewigen Lebens. Und jeder muss seines tragen. Wenn er aber das des anderen auch trägt, dann wird er das Gesetz Christi erfüllen, wie Paulus im Brief an die Galater schreibt. Das iPhone dagegen ist das Zeichen des weltlichen Glücks, und bevor der Grenznutzen erreicht ist, wird der Gott des Konsums zu Fleisch im nächsten Modell. Jede Markteinführung eine neue Chance auf Erlösung. Höchstens Produktionsengpässe können ein Nadelöhr auf dem Weg ins irdische Himmelreich darstellen. Darum ist der Kapitalismus die Überreligion. Er überwindet den Dualismus von Transzendenz und Immanenz, die Gegenwart wird zum Himmelreich und jeder Apple-Store zum Neuen Jerusalem.
    Im Gesicht des Apple-Jüngers aus München war ein Zustand zu erkennen, der nicht so ohne weiteres herzustellen ist: Glück, ja Exaltation. Man sollte sich darüber nicht lustig machen. Im Gegenteil: Da verbirgt sich ein ernstes Problem. Wer auch immer meint, diesen jungen Mann vom Übel des Kapitalismus erlösen zu müssen, sollte sich der Frage stellen, ob er überhaupt erlöst werden will. Vielleicht genügt es ihm völlig, regelmäßig ein neues iPhone zu bekommen?
    Der Kapitalismus ist kein Dämon, der sich leicht austreiben lässt. In den London riots wollten die Plünderer die uneingelösten Versprechen des
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