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Rywig 08 - Sonjas dritte Sternstunde

Titel: Rywig 08 - Sonjas dritte Sternstunde
Autoren: Berte Bratt
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Schultern. So blieben wir eine Weile sitzen, bis all die neugierigen Besucher weg waren. Zum Glück nahte die Lunchzeit, der Hunger trieb die meisten zu den Hotels und Kaffeeshops.
    Allmählich versiegten die Tränen. Heiko wischte behutsam Olivias verweinte Augen mit seinem eigenen Taschentuch ab.
    Dann sprach er leise und milde: „So, Olivia. Jetzt sollten Sie sich aussprechen. Das, was Sie mit sich herumtragen, werden Sie nicht dadurch los, daß Sie ein Kind verprügeln. Sie müssen sich erleichtern, und Sonja und ich werden Sie verstehen und alles für uns behalten.“
    Ich nahm ihre Hand und drückte sie, und sie beantwortete den Händedruck mit ihren schlanken, muskulösen Fingern.
    „Es war die weiße Taube“, flüsterte sie. „Ich hatte einmal eine weiße Taube.“ Dann schwieg sie, ihre verweinten Augen starrten geradeaus, starrten ins Nichts.
    Dann fing sie plötzlich an zu sprechen. Sie sprach hastig, oft unzusammenhängend, sie sprach leidenschaftlich, hin und wieder zitterte ihre Stimme, und sie ballte die Hände und biß auf die Lippe.
    Es war eine Tragödie, die sie uns erzählte. Die Tragödie eines Kindes.
    Sie hatte ihren Vater früh verloren, und bekam mit zehn Jahren einen Stiefvater. Anfangs ging es gut, er war ganz nett zu der Stieftochter, machte ihr Geschenke, ging gern mit ihr spazieren und war anscheinend stolz auf das hübsche Kind, das man gewöhnlich für seine Tochter hielt.
    Dann bekam sie eine kleine Schwester, und mit einem Schlag wurde alles ganz anders. Es hing vielleicht auch damit zusammen, daß sie selbst in das „Flegelalter“ kam. Aus dem hübschen Kind wurde ein mageres, hochgeschossenes Mädchen mit schlechter Haltung und häßlichen Hautpickeln.
    Der Stiefvater liebte die Kleine, seine eigene Tochter, beinahe abgöttisch. Sie wurde verhätschelt, verzogen, maßlos verwöhnt. Die kleine Patricia machte die Bücher der großen Schwester kaputt, riß ihre kleinen Bastelarbeiten auseinander. Ihre Steinsammlung, sorgfältig geordnet und katalogisiert, wurde in einem unbewachten Augenblick von der Kleinen durcheinandergebracht, die schönsten Steine verschwanden, mit den übrigen spielte Patricia, bis sie es satt hatte und die Kostbarkeiten irgendwo liegen ließ. Als der Stiefvater auf so einen Stein trat, schmiß er diesen und die anderen, die rumlagen, ganz einfach weg.
    Olivia wurde einsam. Die Mutter durfte sie nicht streicheln, durfte sich nicht in einer netten Weise mit ihr unterhalten, wenn der Stiefvater in der Nähe war. Dann hieß es immer, sie untergrabe seine Autorität, sie verwöhne die Tochter, sie vergesse, daß sie auch ein kleines Töchterchen habe!
    Der Stiefvater war sehr stolz auf seinen Garten. Als Olivia einmal
    - ein einziges Mal - eine Rose abgebrochen hatte, bekam sie eine schallende Ohrfeige. Die kleine Patricia konnte alles abrupfen, was sie wollte, konnte die Blumen überall verstreuen. Das sei nur reizend und niedlich und brachte ihr den Kosenamen „mein kleines Blumenmädchen“ ein.
    So blieb Olivia in ihrem Zimmer, sie las, sie machte Schularbeiten, sie bastelte dies und jenes - und war einsam.
    „Dann.“, erzählte sie mit heiserer Stimme, „dann kam eines Tages die weiße Taube. Sie saß plötzlich vor meinem Fenster. Ich machte das Fenster auf und streute ihr Krümel hin. Sie kam jeden Tag und wurde immer zahmer. Zuletzt kam sie rein ins Zimmer. Sie saß auf meinem Tisch, während ich arbeitete, manchmal saß sie auf meiner Schulter und zupfte an meinem Ohrläppchen.“
    Olivia machte eine Pause. Als sie weitersprach, war ihre Stimme so angestrengt und so leise, daß es schwer war, jedes Wort zu verstehen.
    Eines Tages war Patricia in ihr Zimmer gekommen, hatte die Taube gesehen und war mit einem Freudenschrei auf sie losgestürzt. Olivia hatte sie schnell am Arm gepackt, hatte ihr zugerufen: „Das ist meine Taube!“ Sie hatte wohl etwas hart zugepackt, denn das Kind schrie, und der Vater erschien. Was hier vor sich gehe, was mache Olivia bloß mit dem Schwesterchen?
    „Dummer Vogel, häßlicher, böser Vogel!“ rief die Kleine.
    Da ergriff der Vater die Taube, drehte ihr den Hals um und sagte: „So! Tauben haben nichts in der Wohnung zu tun, wer hat dir überhaupt erlaubt, ein Tier zu halten?“
    Olivia hatte nicht geschrien, nicht geweint. Sie stand steif da, steif und eiskalt, und es war ihr, als ob der Haß selbst ihr die Kräfte gab, ruhig zu bleiben.
    Von dem Augenblick an kämpfte sie gegen ihre eigenen Gefühle, kämpfte
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