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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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»Katakombenkirche« bekannt, in Anlehnung an die unterirdischen Gottesdienste der frühchristlichen Zeit. Er wußte aber auch, daß seit den Anfängen des Sowjetstaates Wanderpriester in ganz Rußland heimliche Messen für die Gläubigen lasen, in Hütten, Scheunen oder in Verstecken in den Wäldern. »Vielleicht werden Sie, falls es wieder eine russische Kultur gibt, auch ein echter Gläubiger«, meinte Paul lächelnd. »Das bezweifle ich.«
    Sie fuhren ziemlich lang in Richtung Vladimir und wandten sich dann nach Süden. Des öfteren schien Sergej sich verfahren zu haben, doch schließlich fand er die schmale Straße nach Russka. Am späten Vormittag erreichten sie das Städtchen. Es war ein große Enttäuschung. Mit Hilfe der Informationen seiner Großmutter konnte Paul Bobrov Sergej und seine Frau herumführen. Das Städtchen war ziemlich verwahrlost. Der große Wachturm mit seinem hohen Zeltdach stand noch, wie auch die meisten Häuser, wobei Paul bemerkte, daß die größeren Häuser der Kaufleute in Wohnungen umgewandelt worden waren. Die Steinkirche am Marktplatz befand sich in einem traurigen Zustand und war offenbar seit Jahrzehnten nicht benutzt worden.
    In einer der Fabriken wurden nun Fahrräder hergestellt. Die Textilfabriken standen noch; eine davon fabrizierte Wolldecken. Nach dem Rundgang durch den traurigen Ort führte Paul Sergej und seine Frau hinunter an den Fluß und weiter zu den Quellen. Hier wenigstens hatte sich nichts verändert, und die drei Besucher saßen eine Weile am moosigen Ufer und lauschten dem herabstürzenden Wasser.
    Zuletzt wollte Paul unbedingt das alte Haus der Bobrovs sehen. Sie gingen zum Wagen zurück und fuhren über die Brücke auf der holprigen Straße weiter durch den Wald.
    Das Dorf sah fast genauso aus, wie Nadeschda es beschrieben hatte. Es gab hier zwar keine Romanovs mehr, und Sergej hatte keine Ahnung, welches Haus seiner Familie gehört hatte, doch wieder erinnerte Paul sich an die Worte seiner Großmutter, und so konnte er das Ehepaar zu dem hübschen zweistöckigen Haus mit den geschnitzten Giebeln führen, in dem Boris Romanov einst gelebt hatte.
    Während des Rundgangs blickte Paul immer wieder den Abhang hinauf, wo er das alte Haus der Bobrovs vermutete. Er konnte es nicht entdecken. Schließlich fragte er einen Ortsansässigen, wo jenes Haus sei.
    Der Bursche antwortete: »Die Leute sagen, daß da oben auf dem Hügel mal ein Haus gestanden hat, aber ich habe es nie gesehen.« Und so war es. Als sie hinaufkamen, fanden sie nichts. Keinen Balken, kein Nebengebäude; nichts als einen schwachen Umriß auf dem Rasen und, etwas höher gelegen, einen überwucherten Weg zwischen Bäumen. Das Haus der Ahnen gab es nicht mehr. Pauls Verbindung zur Vergangenheit war verloren, begraben. Seine Reise war umsonst gewesen. Traurig wandte er sich ab. Sie fuhren weiter und näherten sich dem Kloster. Von außen wirkte es verlassen. Die Mauern bröckelten ab, der Glockenturm war eingestürzt. Die Gebäude im Inneren sahen aus, als hätten sie keine Fensterscheiben mehr. Doch da tauchten plötzlich zwei Mönche auf.
    Sie waren jung und trugen einfache Soutanen. Einer war groß und schlank, hatte einen kleinen hellen Bart. Der andere hatte ein breites, intelligentes Gesicht und leuchtendblaue Augen. Lächelnd blickten sie dem Wagen entgegen.
    Sergej hielt an und kurbelte das Fenster herunter. »Sind hier noch Mönche?«
    Das berühmte Danilovkloster hatte seine Mönche an verschiedene Orte gesandt, aber Sergej hatte nicht gewußt, daß sie auch bis nach Russka gelangt waren.
    »Seit drei Monaten wieder.« Der große Mönch lächelte. »Sind Sie getauft?«
    »Selbstverständlich.« Paul Bobrov antwortete vom Beifahrersitz aus, und Olga nickte dazu.
    »Gott hat Sie zu einem günstigen Zeitpunkt geschickt«, sagte der Mönch mit den blauen Augen. »Kommen Sie, und sehen Sie selbst!«
    Es war ein unerwarteter Anblick. Ein Dutzend Mönche stand neben der Kapelle im Kreis. Außerdem standen etwa vierzig Bauersleute, meist Frauen, ehrerbietig beiseite. Neben dem Eingang zur Kapelle war ein Sarg, mit einem dunkelroten Tuch bedeckt, aufgestellt.
    Die drei stiegen aus dem Wagen und standen leicht verlegen da; Sergej wußte nicht, wie er sich verhalten sollte, und Olga war offensichtlich entschlossen, die Kapelle zu betreten.
    »Ich fürchte, wir stören«, sagte Paul. Doch die beiden Mönche wollten nichts hören und eilten davon, um gleich darauf mit einem etwa fünfzigjährigen Mann
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