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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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Großstädten zu finden. Aber sie hatten nichts mit der Masse russischer Juden zu tun, die um die Jahrhundertwende in diese Städte gekommen waren, auch nicht mit der nachfolgenden russischen Flüchtlingswelle während des Zweiten Weltkrieges und ebensowenig mit den geflüchteten Sowjets, die sich heutzutage an Orten wie Brighton Beach südlich von New York zusammendrängen. Paul Bobrovs Gemeinde bestand aus den russischen Emigranten der Adelsklasse, der, genaugenommen, sogar Nadeschda nur durch Heirat angehörte.
    Sie waren eine eng miteinander verwobene Gruppe. Manche hatten Geld, viele hatten keines. Sie führten das bescheidene Leben der Mittelklasse in schattigen, von Bäumen gesäumten Straßen, und obwohl sie nach außen hin wie durchschnittliche Amerikaner wirkten, heirateten sie normalerweise nur untereinander, sprachen zu Hause Russisch und Englisch und, was selten in Emigrantengemeinden der Fall war: Sie behielten das geistige Leben ihrer Heimat bei.
    Ihr Zentrum bildete die Kirche. Für Pauls Großvater Alexander war dies die natürliche Fortsetzung seines Lebens in Rußland. Für andere, die sich in der alten Heimat nicht um Religion gekümmert hatten, war die orthodoxe Kirche nun eine Orientierungshilfe, an der sie sich der eigenen Identität vergewissern konnten. Die orthodoxe Kirche, zu der sich Leute wie die Bobrovs bekannten, hatte bisher die Legitimität des Patriarchen von Moskau nicht anerkannt, da seine Priester jahrzehntelang unter der Knute des KGB standen.
    Jeden Samstag brachten Gemeindemitglieder wie Paul, die bereits seit zwei Generationen fern von Rußland lebten, ihre Kinder in die Versammlungshalle der Kirche, wo sie einen halben Tag lang Unterricht in russischer Sprache und Geschichte erhielten. Sonntags konnte man den Träger eines stolzen alten russischen Namens in der Kirche Kerzen verteilen sehen, oder man konnte ihn mit schöner Baßstimme im Chor singen hören. Die alte Frau, die vor einer Ikone betete, einen Schal um den Kopf geschlungen wie eine babuschka, mochte eine russische Prinzessin sein. Die Kinder wurden gründlich getauft – sie wurden dreimal ins Becken getaucht.
    Einmal im Jahr führte Paul seine Frau entweder auf einen russischen Adelsball – eine feierliche Angelegenheit, auf der ältere Herren sich mit zaristischen Orden zeigten – oder auf den flotteren Petruschka-Ball.
    Auf diese Weise hielt die russische Gemeinde mit bemerkenswerter Zähigkeit weiterhin durch und wartete. Worauf? Auf das Ende des Sowjetregimes? Auf die Wiedereinsetzung des Zaren? Das waren Altherrenträume gewesen – bis zum vergangenen Jahr. Paul dachte wieder, daß wohl niemand den totalen Umbruch im August 1991 hatte voraussehen können: den Rückzieher des Militärs während des Putsches, den Fall Gorbatschovs, die Abspaltung der Ukraine von Rußland, den Zusammenbruch des gesamten Systems. Bewegte Tage waren das gewesen, gefährliche Tage. »Ganz Osteuropa kehrt zu Modellen zurück, die ich als Kind vor dem Ersten Weltkrieg gekannt habe«, erklärte Nadeschda. Von den vielen Möglichkeiten, die nun in dieser seltsamen neuen alten Welt auftauchten, war für einige Emigranten keine sehnlicher erhofft als der Traum von der Restauration.
    Wenn auch die Familie des Zaren Nikolaus ermordet worden war, konnten die noch überlebenden Zweige der RomanovDynastie doch einen Erben hervorbringen. Wurde nicht der natürliche Anwärter auf den Thron, der vierundsiebzigjährige Großfürst Vladimir, bei seinem Besuch in dem wieder umbenannten St. Petersburg wie ein Held empfangen? Und nun, nach dem Tod des Großfürsten – hatte Jelzin nicht dessen Beisetzung in der Hauptstadt seiner Vorväter gestattet? Es war erstaunlich. Schloß sich die Geschichte zum Kreis?
    »Eine konstitutionelle Monarchie«, sagten die Leute, »so wie in England. Das könnte die Dinge vielleicht ins Lot bringen.« Nun jedoch, da der Großfürst verschieden war, stand es mit der Nachfolge weniger eindeutig.
    Paul verfolgte jeden Abend aufmerksam die Nachrichten im Fernsehen und sah, wie Boris Jelzin und die neue Demokratie um ihr Überleben in all der Verwirrung kämpften, und es fiel ihm schwer, sich einen Zaren in irgendeiner Rolle vorzustellen. Was seine eigene Person und die Gründe für seinen Aufenthalt in Moskau betraf, mußte Bobrov sich eingestehen, daß auch er höchst unsicher war. Wie viele andere Emigranten wollte er in erster Linie nur einmal wieder die Heimat sehen und eine Wallfahrt zum Familienbesitz machen.
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