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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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reisen zu können. Wie viele Russen seines Alters – Paul schätzte ihn auf Ende Dreißig – sprach er wenig über sich selbst, wollte jedoch möglichst alles über Bobrov erfahren. Auch Olga war Akademikerin, ihr Spezialgebiet war die russische Geschichte des Mittelalters. Paul stellte bald fest, daß Sergej und Olga, obwohl zwischen beiden eine echte Liebe bestand, sehr unterschiedliche Charaktere waren. Sergej hatte plötzliche Anwandlungen von Enthusiasmus, die von grüblerischer Nachdenklichkeit bis hin zur Depression, so vermutete Paul, abgelöst wurden. Olga ihrerseits schien, obwohl sie warmherzig und freundlich wirkte, das Leben mit einer Art skeptischer Schwermut zu sehen; von Zeit zu Zeit klang ihre Stimme von hinten wie eine klagende Glocke.
    Paul führte eine ungezwungene Unterhaltung mit ihnen, erzählte von seiner Familie, seiner russischen Erziehung, von Kinderreimen und Volkssagen, die ihnen allen bekannt waren. Die beiden wiederum berichteten aus ihrem Leben.
    Anscheinend hatten sie eine kränkelnde Tochter. »Sie war immer so müde, so blaß. Und nach Tschernobyl und der Strahlenverseuchung… Man weiß nie genau Bescheid mit den Lebensmitteln, wissen Sie. Wir hatten solche Angst.« Olga schwieg eine Weile, ehe sie fortfuhr: »Aber Sergej traf einen Arzt aus dem Westen hier vor zwei Jahren, einen Kinderspezialisten. Er erklärte sich bereit, unsere Tochter zu untersuchen. Wissen Sie, was er gesagt hat? Sie sei nicht krank, sondern unterernährt. Unsere Ernährung ist sehr schlecht. Und dann sagte der Arzt noch: ›Das gibt es sehr häufig in Ländern der Dritten Welt, wie Ihres eines ist.‹« Sie schüttelte den Kopf. »Dritte Welt – unser großes Rußland. Ich war entsetzt.«
    »So schlimm ist das doch nicht«, meinte Sergej. »Doch. Wirklich, es ist schrecklich.« Einige Minuten später fuhr Olga fort: »Wissen Sie, ich brauche so viel Zeit, jeden Tag Stunden, um genug zu essen für meine Familie aufzutreiben; das macht mich ganz stumpfsinnig. Ich bin Akademikerin, aber mein einziges Gesprächsthema ist das Essen.« Sie schüttelte resigniert den Kopf. »Wie eine Bäuerin.« Sie sprachen über anderes: über die Trennung der Ukraine von Rußland, den Streit um die Krim, die Möglichkeit, daß aus dem ehemaligen Königreich Georgien wieder ein souveräner Staat werden könnte. Und natürlich über die stets gegenwärtige Gefahr, daß alles zusammenbrechen und das Militär wieder in Rußland einschreiten könnte. »Man darf sich nicht täuschen«, sagte Sergej, »sie halten sich zwar von der Politik fern, aber die Männer an der Spitze der Armee sind außerordentlich unzufrieden.«
    »Es wird einen Bürgerkrieg geben«, ließ Olga sich von hinten vernehmen, »das ist sicher.«
    Paul runzelte die Stirn. »Die Leute sagen das, aber ich möchte doch wissen, wer im Fall eines Bürgerkriegs wen bekämpfen sollte – und weshalb.«
    Sergej brach in lautes Gelächter aus. »Sie haben zu lange im Westen gelebt. So ist Rußland eben. Wir wissen auch nicht, wer wen bekämpft und warum. Wir wissen nur, daß es zum Kampf kommen wird.«
    Eine Zeitlang fuhren sie schweigend dahin, ehe Sergej sagte: »Natürlich wollen wir auch mehr über Sie erfahren, denn wenn Rußland Menschen wie Sie verloren hat, haben wir den größten Teil unserer alten Kultur verloren, und wir wissen kaum, wie wir sie zurückgewinnen können. Wissen Sie, daß die Philosophie, die an russischen Schulen gelehrt wird, aus Hegel, Feuerbach und Marx besteht? Plato, Sokrates, Kant werden kaum erwähnt.« Er schüttelte den Kopf. »Wir wollen vor allem unsere eigene Geschichte«, fuhr er fort. »Stalin hat so vieles umgeschrieben, daß wir die Wahrheit überhaupt nicht kennen. Können Sie sich vorstellen, wie man sich dabei fühlt? Wenn man begreift, daß man keine Ahnung von dem hat, was tatsächlich geschehen ist, wie man zu der Person geworden ist, die man ist? Wir empfinden uns als verlorene Generation. Und wir wollen alles Verlorene zurückhaben.«
    »Wie steht es mit der Kirche?« fragte Paul. »Ich bin Atheist«, erklärte Sergej offen. »Ich kann nicht glauben. Wenn andere das können, soll ihnen nichts im Wege stehen. Olga ist gläubig«, fügte er hinzu, und Paul bemerkte, daß Olga ihren Mann, während er sprach, sehr ernst ansah. Da lächelte Sergej. »Auch meine Mutter war gläubig. Sie besuchte geheime Messen in Privathäusern.«
    Paul hatte von dieser verborgenen religiösen Betätigung gehört. Sie war als
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