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Russka

Russka

Titel: Russka
Autoren: Edward Rutherfurd
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reglementieren«, meinte Dimitrij. Noch mischte man sich, wie bei Prokofiev und Schostakovitsch, nicht sonderlich in seine Arbeit ein.
    Doch auch für ihn galt es grundsätzlich, vorsichtiger zu sein. Der letzte Streich der Gesetzgebung bedrückte ihn zutiefst. Daß Kinder für die sozialistische Welt erzogen werden sollten, das war ja akzeptabel, aber daß Kinder zu Feinden ihrer Eltern gemacht werden sollten – dagegen sträubte sich alles in ihm. Das neue Kindergesetz war eindeutig. Jedes Kind, das bei seinen Eltern konterrevolutionäre Bestrebungen feststellte, hatte dies zu melden. Anfangs hatte Dimitrij darüber geschmunzelt. »Deine Mutter ist Wissenschaftlerin, und ich bin Musiker«, hatte er zum kleinen Peter gesagt, »also brauchst du dir deshalb keine Gedanken zu machen.« Und der Junge hatte darüber gelacht. Er war erst neun Jahre alt, doch Dimitrij sah in seinen dunklen Augen Klugheit, Nachdenklichkeit. Natürlich war es unbedacht von ihm gewesen, kritische Bemerkungen zu machen, auch wenn es in den eigenen vier Wänden geschehen war. Aber wie sollte man sich denn nicht aufregen? Im vergangenen Jahr hatte die Regierung tatsächlich verfügt, daß einige wissenschaftliche Disziplinen abgeschafft werden sollten: Pädologie, Genetik, Soziologie, Psychoanalyse. Die Basis dafür lieferte die Stalinverfassung, mit der Rußland zum vollkommenen demokratischen Staat erklärt wurde. Da durfte es logischerweise keine Wissenschaftszweige geben, die sich mit armen Kindern, ererbten Abnormitäten, sozialen Problemen oder Menschen mit seelischen Defekten beschäftigten.
    Eines Abends hatte sich Dimitrij zu Hause im Kreis von Freunden an Peter gewandt: »Du begreifst doch, daß diese Verfassung eine schändliche Lüge ist?« Mehr hatte er nicht gesagt. Eine Woche danach wurde ihm bewußt, daß er damit bereits zu weit gegangen war. Er sah es in den Augen seines Jungen. Eines Nachmittags hatte er am Küchentisch gearbeitet und plötzlich den vorwurfsvollen Blick des Kindes unverwandt auf sich gespürt. Als er instinktiv den Arm um ihn legte, wich Peter zurück, schuldbewußt und offensichtlich völlig verwirrt. Dimitrij wußte sofort Bescheid. Und der Junge ahnte, daß der Vater es wußte. Keiner von beiden sagte ein Wort.
    Aber es war eine traurige Tatsache. Würde man die Suite überhaupt zur Aufführung zulassen? Schließlich war sie harmlos. Dimitrij glaubte nicht, daß man sie verbieten würde, aber vielleicht war es besser, die Partitur irgendwo zu verstecken, sie jemandem zur Aufbewahrung zu geben. Nur für alle Fälle. Er arbeitete zügig weiter. Drei Meilen entfernt war auch Stalin, tief im steinernen Herzen des Kreml, bei seiner Arbeit. Es hieß, daß ihm um diese Nachtstunden die Säuberungslisten vorgelegt würden. Viele Personen waren bereits verschwunden. Allmählich gewann die Coda an Gestalt. Die Synkopen trafen aufeinander, dann trennten sie sich wieder, als die Leute schrien, während der Feuervogel und der Bär ihren wilden Tanz der Freude und Freiheit vollführten, bis sie aus dem Zirkus ausbrachen, in die Nacht hinaus, und dem Wald zustrebten.
    Es war eine Stunde nach Mitternacht. Es klopfte an die Tür. Der Feuervogel flog hoch, streifte das Zeltdach. Das Klopfen verstärkte sich.
    Da stand Dimitrijs Frau in der Küche und starrte ihn mit erschrockenen, verständnislosen Augen an. »Der NKWD. Was haben wir denn getan?« Die kleine Tochter war aufgewacht und weinte. Sein Sohn, totenblaß, stand hinter ihnen.
    Der Feuervogel stieß herab und rief dem Bären etwas zu, der sich schwerfällig auf den Eingang zubewegte. Noch eine Minute, und sie würden frei sein.
    Schläge hämmerten an die Tür. Ärgerliche Stimmen ertönten. Der kleine Peter ging in die Diele. Gleich würde er sie einlassen. Der Eingang des Zirkuszeltes öffnete sich, und mit einem letzten ungeheuren Knall des Schlagzeugs verschwanden Feuervogel und Bär in die endlose Freiheit des Waldes. Dimitrij wandte sich um. Sie waren zu dritt. Er durfte seine Frau und das kleine Mädchen küssen. Die Partitur blieb auf dem Tisch liegen.
    Sie wandten sich zum Gehen.
    In der Diele stand der Junge. In der Schule hatte man ihm nicht alles gesagt. Als er nun sah, wie sie seinen Vater mitnahmen, brach er weinend zusammen.
    Dimitrij hob ihn auf und nahm ihn fest in die Arme. »Ist ja gut«, flüsterte er. »Ich wußte es, aber es ist schon gut. Die Partitur ist für dich.«
    Dann ging auch er hinaus in eine kältere, dunklere Nacht.
    1938
    Ivanov
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